5 – Spirituelles Wachstum oder spiritueller Behaviorismus?

Viele Möglichkeiten, sich mit dem Thema persönlichen Wachstums auseinanderzusetzen, wetteifern heutzutage um Anhänger, und es ist schwer zu unterscheiden, was nützlich oder schädlich und was nur belanglos ist. Die moderne Haltung trübt die Angelegenheit, indem sie die Betonung auf Bequemlichkeit, schnelle Ergebnisse und technische Lösungen und darauf, dass alles von unserer Seite aus mit möglichst minimalem Einsatz geschehen kann, legt. Unser Interesse gilt den Symptomen und dem Verhalten, weniger ihren Ursachen. Wir hätten gerne eine Pille, eine Technik, ein Gerät – fertig verpackt, automatisch, schnell wirkend, narrensicher –, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Wir erkennen diese Haltung des spirituellen Behaviorismus in Selbsthilfe-Tonbändern, die versprechen, dass der Hörer sich verändern und Fortschritte machen wird, wenn er sie immer wieder anhört, wobei unterschwellige Tonbänder keinerlei bewusste Anstrengung erfordern. Es klingt sehr angenehm: Eine schmerzlose, wirksame Lösung für so viele Probleme und ein leichter Weg zu persönlichem und spirituellem Wachstum – es fällt schwer, einem Versuch zu widerstehen. Wenn es bei dieser Art des Vorgehens auch „Ergebnisse“ geben mag, bleibt es dennoch unklar, ob sie imstande ist, eine sinnvolle, persönliche Entwicklung zu fördern.

Religiösen Überlieferungen haben die Jahrhunderte hindurch versichert, dass die Menschen sowohl göttliche wie psychische und physische Wesen sind. Menschliches Wachstum ist eine Langzeit-Angelegenheit; aus der Perspektive der Reinkarnation ist es tatsächlich ein langfristiges Projekt. Gegenüber diesem Panorama der menschlichen Existenz wird eine sofortige Befriedigung irrelevant. Wir evolvieren langsam, um mitleidsvolle, selbstbeherrschte Meister jener Charakteristika zu werden, die uns von den Tieren unterscheiden. Auf dieser evolutionären Reise zählt das Unterwegssein viel mehr – die Bemühungen, die Motive, das Verhalten – als das Erreichen eines bestimmten Ziels oder der Besitz besonderer Eigenschaften und Fähigkeiten. Wirkliches Wachstum liegt in unserer Verwandlung, so dass Vervollkommnung als natürliches Ergebnis folgt und nicht als etwas, das uns aufgepfropft wurde. Indem wir äußere Erfolge zu einem Nebenprodukt der inneren Entwicklung und nicht zu einem Ziel an sich machen, sind wir immer mehr imstande, alles, was auf uns zukommt, in einer positiven, selbstbewussten Art anzunehmen. Wenn wir uns andererseits verändern lassen, ohne die Anstrengung selbst zu unternehmen, geschieht es leicht, dass wir immer passiver werden und immer offener sowohl für die Einflüsse anderer als auch für die unserer unentwickelten Aspekte. Passive Methoden, die mehr mit den Symptomen unseres inneren Zustands als mit diesem Zustand selbst zu tun haben, untergraben gerade die Qualitäten, die wir am nötigsten brauchen, um vollkommene Menschen zu werden: Selbstdisziplin und Selbstkontrolle, ein aktiver Wille und das Vertrauen in unsere eigene Stärke und Weisheit.

Diese Situation legt eine Analogie nahe: Um den Ertrag zu steigern, sind die Landwirte zur Benutzung von Kunstdünger, Pestiziden, Herbiziden, zu unüberlegter Bewässerung und Monokultur übergegangen. Während diese Praktiken Gewinn abwerfen, ruinieren sie mit der Zeit den Boden und verursachen die Verschmutzung und Senkung des Grundwasserspiegels. Organische Prozesse gestatten es den Pflanzen, ohne Schaden für die Umgebung zu gedeihen und den Boden zu verbessern, so dass der Ertrag weiterhin steigen kann. Wie bei der organischen Landwirtschaft hängen nutzbringende Entwicklungsmaßnahmen von einer sorgfältigen Vorbereitung und der Einbindung in die Naturprozesse ab. Sie sind keine schnellen Hilfsmittel, die massenweise hergestellt werden können. Wenn wir unser Denkvermögen und unsere Energien kultivieren und kontrollieren, so dass unser Dasein auf die Weiterentwicklung gerichtet ist, wird Wachstum beginnen und anhalten. Ein derartiges Programm hängt nicht von dramatischen Resultaten ab, die auf Kosten der Zukunft produziert werden. Techniken wie Hypnose, Selbsthypnose und eine unterschwellige Programmierung bringen oberflächliche Ergebnisse, während sie die grundlegenden Faktoren, die wir zum ständigen spirituellen Wachstum brauchen, untergraben. Wenn wir schnelle Resultate aus solchen Praktiken erzielen, werden wir wahrscheinlich erschöpft und an einem Punkt zurückgelassen, der unter unserem gegenwärtigen Wachstumsniveau liegt.

Die großen Antreiber für die Verwendung der Chemie in der Landwirtschaft sind wiederum die Hersteller, deren Gewinne vom Verkauf und der steigenden Anwendung abhängen. Die Konzernvertreter waren für die Landwirte die primäre Quelle bezüglich dieser Methoden. Auch im Bereich der menschlichen Entwicklung sind oft diejenigen die wichtigsten Befürworter einer besonderen Technik oder Ansicht, die finanziell von ihrer Annahme profitieren. Ein weiterer Grund, dass jeder selbst denkt und nachforscht und vorsichtig ist, Praktiken anzunehmen, die ein anderer zu verkaufen versucht.

Aus einer anderen Sicht kann die Anwendung von mechanischen oder passiven Methoden eine Entwicklung forcieren, für die wir noch nicht vorbereitet sind, so dass wir leichter innerlich aus dem Gleichgewicht geraten. Es ist viel leichter, uns für bestimmte Erfahrungen und Energien zu öffnen, als sie, wenn wir einmal damit angefangen haben, zu beherrschen oder uns davor zu schützen. Große Unterscheidungsfähigkeit ist erforderlich, um die Ergebnisse zu bewerten. Hatha Yoga wird zum Beispiel gewöhnlich als ein auf den Körper bezogenes Übungssystem für Fitness und Gesundheit angeboten. Es kann jedoch die psychischen Zentren des Körpers aktivieren, was die Hindu Yogis sehr gut verstehen. Gleich jenen Techniken, die entwickelt wurden, um Kundalini und ähnliche Energien zu erwecken, können sie dramatische Resultate erzeugen und zu beunruhigenden Erfahrungen führen, mit denen schwierig umzugehen ist, selbst wenn ein kompetenter Lehrer dabei ist. Die meisten von uns sind noch nicht imstande, diese Phänomene zu kontrollieren, weil wir in uns noch nicht das Fundament gelegt haben, das die Anwendung dieser Methoden für uns natürlich macht.

Außerdem kann die Anwendung von Methoden zur persönlichen Veränderung, die an unserem Selbstbewusstsein vorbeigehen, dazu führen, dass wir die Verbindung mit jenen Bereichen in uns verlieren, die laut nach unserer Aufmerksamkeit rufen. Deutet eine Veränderung im Verhalten oder im mentalen Muster an sich auf inneres Wachstum hin oder lediglich auf das Unterdrücken von unerwünschten Symptomen? Wir alle möchten hin und wieder unseren Unvollkommenheiten und Schwierigkeiten entkommen, aber sind diese nicht lediglich Hinweise auf Bereiche in uns, die verändert werden müssen? Genauso gut könnten wir meinen, es wäre wunderbar, physischen Schmerz zu eliminieren; aber ohne die negative Rückwirkung unseres Körpers würden wir sehr bald krank. Wir wüssten nicht, ob wir verletzt sind oder wann wir reagieren oder unser Verhalten ändern müssen. Lepra ist ein Beispiel für die traumatischen Wirkungen, wenn man die Wahrnehmung der physischen Verletzung verliert, wenn der Körper verwundet, infiziert und schließlich deformiert wird, weil dem Leidenden die normale physische Empfindung fehlt. Ähnlich können wir ohne den heilsamen psychischen Schmerz – wenngleich unwillkommen – zu spirituell Aussätzige werden, zunehmend entstellt in unserem spirituellen Körper, weil die dementsprechende Rückmeldung über unser inneres Umfeld fehlt.

Vielleicht lautet die grundlegendste Frage: Warum möchten wir uns überhaupt „verbessern“? Der primäre Gewinn, der zu Gunsten vieler verfügbarer Techniken aufgelistet wird, besteht darin, erfolgreich zu sein – persönlich, finanziell, mental, sozial, spirituell und physisch. Während wir das allgemein als ein normales, sogar empfehlenswertes Motiv akzeptieren, spiegelt es eine egozentrische und keine universale Einstellung. Anstatt uns zum spirituellen Zentrum unseres Wesens zu führen, neigt das eher dazu, uns auf unsere Persönlichkeit zu konzentrieren, und damit wird der Haltegriff des Egos auf uns verstärkt. Der Mahāyāna-Buddhismus weist klar auf die Gefahr spiritueller Selbstsucht hin. Wer um seines persönlichen Erfolgs wegen nach der Verbesserung seiner Selbst strebt oder dem Schmerz des menschlichen Daseins entkommen möchte, kann große spirituelle Fortschritte machen sowie psychische und spirituelle Fähigkeiten daraus entwickeln, aber dennoch ist das grundsätzlich ein „selbstzentrierter“ Weg und daher begrenzt. Bei dieser Betrachtungsweise besteht immer die Gefahr, destruktiv selbstsüchtig und in der Entwicklung rückläufig zu werden, sowohl zum Schaden anderer als auch zum eigenen. Der Mensch, dessen Wachstum aus einer allumfassenden Liebe und aus dem Wunsch resultiert, für alle um ihn herum hilfsbereiter zu sein, selbst wenn das eine Verzögerung oder gar Ausbleiben seines eigenen persönlichen Fortschritts bedeutet, hat sein Ziel auf einen Zustand jenseits persönlicher Begrenzung gerichtet. Wenn wir uns auf Resultate, Erscheinungsbilder und das Konkrete konzentrieren, sind wir geneigt, das Motiv als metaphysischen Faktor und deshalb folgewidrig aufzugeben. Das Motiv ist jedoch der Hauptfaktor in der menschlichen Entwicklung; es zeigt die Richtung an, in die wir gehen und welche Art von Mensch wir letztlich werden möchten – und was wir uns wünschen, werden wir mit der Zeit.

Wie können wir nun den Wert der verschiedenen Entwicklungsprogramme ermitteln? Es ist äußerst wichtig, dass jeder Mensch seine eigene Unterscheidungskraft anwendet. Allerdings sind die beiden Schlüsselelemente des Nachdenkens die Selbstlosigkeit und die Universalität. In dem Maß, in dem eine Technik an unser Verlangen appelliert, etwas für uns selbst oder umsonst zu erreichen, in dem Maß konsolidiert es unser Ego, statt seine Beherrschung unseres Bewusstseins aufzulösen. Das schließt nicht aus, dass sich mit zunehmendem Verständnis verbesserte Lernmethoden auftun – obwohl nur jene Erfahrungen, die in unserem tieferen Selbst erarbeitet sind, unserem Charakter dauerhaft hinzugefügt werden, während die oberflächlichen Gewohnheiten sich nach dem Tod mit unseren physischen und psychischen Körpern auflösen. Wir müssen jedoch über die Resultate hinausgehen und zu einer Bewertung gelangen, die auf Motiven, Einstellungen und der natürlichen Funktion spiritueller Kräfte in uns beruht. Was ist im menschlichen Leben wirklich wichtig? Die Bhagavad Gītā gibt uns den Rat nach Weisheit zu suchen, „indem wir dienen, eingehend forschen, Fragen stellen und Demut zeigen“ – die Tätigkeiten betonend, ohne persönliches Anhaften an den Resultaten. Zum inneren Wachstum gibt es keine Abkürzungen, denn es ist ein aktiver Prozess, der nicht nur bedeutet, aufnahmebereit zu sein. Die Konzentration unseres Bewusstseins auf das Göttliche und das Herangehen an unsere Handlungen vom Standpunkt des Höchsten statt von unserer Persönlichkeit aus – das ist der zeitlose Pfad zu spirituellem Wachstum. Wenn wir eine weniger selbstbezogene Haltung einnehmen und uns auf das Dienen konzentrieren, werden wir erkennen, dass wir die nötigen Qualitäten besitzen und effektiv mit unseren Problemen und Unvollkommenheiten umgehen können.

Yoga-Therapie1

Heutzutage besteht ein wachsendes Interesse für Yoga als Methode zur Gesundheitsförderung. Verschiedene Organisationen, darunter auch Sportvereine, empfehlen bestimmte Yoga-Übungen, um den Körper zu stärken oder fit zu halten. Es gibt auch Ärzte, die zur Heilung von Krankheiten Yoga-Therapien anwenden, manchmal auch zur Vorbeugung, indem sie die Körperfunktionen ins Gleichgewicht bringen, wodurch die großen Spannungen dieser Zeit besser verkraftet werden können.

Es wäre alles wunderbar, wenn diese Therapien sich auf normale Körperübungen beschränken würden und die Atemübungen sich lediglich damit beschäftigten, was jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand tut, nämlich seine Lungen mit reinem Sauerstoff zu füllen. Auch wenn die Übungen anfangs ganz harmlos zu sein scheinen, wage ich dennoch zu behaupten, dass viele Menschen schon recht bald darin unterrichtet werden, wie sie ihren Atem „beherrschen“ können, und zwar durch das, was die Yogis Prāṇāyāma oder die Regulierung der Prāṇas oder des „Lebensatems“ nennen, der dem Körper Leben schenkt und ihn gesund erhält, wenn er in normaler Weise funktionieren kann. Und dies kann gefährlich werden, weil die ersten Stadien dieser Übungen oft eine größere körperliche Energie zur Folge haben. Abgesehen von den spirituellen und moralischen Risiken, die man trägt, wenn man seine Energien aus der richtigen Bahn bringt, ist auch eine körperliche Gefahr damit verbunden. Wenn das natürliche Fließen der Lebensströme durch eine unvernünftige und gewöhnlich falsch geführte Beherrschung des Atemprozesses gestört wird, könnte die Auswirkung auf unsere Gesundheit äußerst schädlich sein. Und was noch viel schlimmer ist: Wenn die Prāṇas, die lediglich die äußerlichen Manifestationen der Lebenskräfte darstellen, welche sich in und durch die feinen Zentren unserer Konstitution bewegen, im physischen Bereich aus dem Gleichgewicht geraten, neigen sie dazu, das Gleichgewicht unserer inneren Natur zu stören. Das ist der Grund dafür, dass wir derartig häufig psychischer und mentaler Labilität begegnen, besonders im Westen, wo wir unsagbar naiv sind, was diese Dinge anbelangt. Dies ist eine direkte Folge der falschen Anwendung von Yoga oder sogenannten „okkulten“ Heilmethoden.

Das klingt vielleicht unfreundlich, aber ich habe die bedauernswerten Menschen gesehen, deren Zustand durch unbesonnenen und unwissenden Gebrauch von Yoga-Techniken verursacht wurde, durch die Beherrschung des Atems und andere Formen der Spielerei mit den vitalen Körperzentren. Der gesamte Bereich der Heilmethoden, die sich von den jahrhundertelang als erfolgreich etablierten Vorgehensweisen unter-scheiden, muss einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen werden, bevor sie zur Anwendung kommen.

Zunächst einmal stellt sich die Frage, was wir eigentlich vom Körper wissen? Was wissen die Ärzte? Sehr viel, gewiss, was seine Physiologie anbelangt, seine Funktionen, und die Behandlung von Krankheitsfolgen. Aber die besten unter ihnen geben sofort zu, dass sie nicht wissen, weshalb uns eine Krankheit trifft; warum der eine Krebs bekommt, der andere einen Herzfehler und wieder ein anderer die Zuckerkrankheit und all die anderen fremden, sogar rätselhaften Leiden, welche die menschliche Rasse heimsuchen. Und was soll man von den Tausenden von Männern und Frauen halten, die heutzutage unter mentalen und nervösen Erkrankungen leiden? Sind die Ursachen psychischer Natur oder liegen sie tiefer, vielleicht in unserer inneren Konstitution?

Paulus sagte über den Menschen, dass er einen „natürlichen oder physischen Körper“ habe und einen „spirituellen Körper“, Worte, die wir einfach mit „Leib und Seele“ übersetzt haben. Es sollte schlicht bedeuten, dass die Wurzeln des Menschen spirituell sind und sein Körper der Spielplatz der Seele ist. Aber in alten Zeiten – wie man der Literatur Griechenlands und Persiens, Ägyptens und Indiens entnehmen kann – glaubte man, dass der Mensch fünf, sieben oder sogar zehn Essenzen oder Energien besitzt, die alle aus dem göttlichen Zentrum oder dem Gott im Inneren emanieren. Man gab ihnen verschiedene Namen, mit denen man versuchte zu zeigen, dass der wahre Mensch unsichtbar ist und dass das, was wir sehen – das Physische – nur ein kleiner Aspekt von der flammenden Intelligenz ist, die den Menschen bildet.

Wir sind wie ein Eisberg, von dem nur ein Siebtel oder Zehntel sichtbar ist und dessen größter Teil unter der Oberfläche verborgen ist. Welch ausgezeichnete Analogie! Der maßgebliche Teil des Menschen unsichtbar, und deshalb ist es verwegen und gefährlich, uns in ein Gebiet hineinzuwagen, das für uns noch nicht kartiert ist.

Ab und zu hört man Berichte über Kranke, die auf eine normale medizinische Behandlung nicht reagieren, die aber durch die Anwendung von Yoga geheilt wurden. Dies löst natürlich das Interesse vieler Menschen aus, denn fast jeder hat die eine oder andere körperliche Schwäche.

Es ist vollkommen richtig, dass in der Anfangsperiode einer Behandlung mit Yoga das körperliche Leiden zurückgeht und die Vitalität wächst. Aber gerade darin lauert die Gefahr, die in der Potenz eine weitaus vernichtendere Auswirkung hat als die Folgen einer Atomexplosion. Als Rasse wurden wir nicht unterwiesen, den Unterschied zwischen dem Spirituellen und dem Psychischen oder zwischen dem Astralen und dem Physischen zu erkennen. Wenn wir durch Unwissenheit andere als die physischen Heilmethoden anwenden, ist die Chance groß, dass wir eine Tür öffnen und Kräfte der unsichtbaren Seite der Natur freisetzen; und wir sind ganz sicher völlig unvorbereitet, um mit diesen Kräften umzugehen.

In den letzten Jahrzehnten sind wir uns in zunehmendem Maße der vielen ungreifbaren Energien bewusster geworden, die durch die Materie wirken, und zwar so, dass unsere Gelehrten zögernd über ‘Anti-Gravitation’, ‘Anti-Protonen’ und von einer möglichen ‘Art der Materie der linken Hand’ sprechen, die das Gegenteil oder die Matrix sein könnten, auf welcher die materielle Welt aufgebaut ist. Wer durch eine forcierte und vorzeitige Entwicklung von psychischen und astralen Kräften versucht, den schützenden physischen Schleier zu zerreißen, vergisst, dass die Natur sowohl eine helle als auch eine dunkle Seite hat. Anstatt seine Aufmerksamkeit der Förderung des moralischen und spirituellen Wachstums zu widmen, wird er von der Faszination der niedrigeren Astralebene in Bann gezogen. Wer diesen natürlichen Schleier durch die Anwendung von Yoga vorzeitig transparenter zu machen versucht, ohne den Schutz einer intelligenten und moralischen Kontrolle, ruft das Unheil herbei, denn genau wie der Zauberlehrling werden wir nicht imstande sein, die Tür wieder zu schließen, die wir so unbesonnen öffneten.

Unlängst hörte ich von einem Patienten, der schon länger ein Leiden hatte, das es ihm unmöglich machte, seine Arbeit zu verrichten. Er hatte bereits viele Ärzte und Spezialisten konsultiert, die ihm allesamt nicht helfen konnten. Schließlich begegnete er jemandem, der Yoga-Therapie praktizierte und ihn behandelte. Sein Zustand besserte sich ziemlich schnell und allmählich konnte er wieder den ganzen Tag arbeiten. Dieser Mann, der Frau und Kinder hatte, für die er sich an erster Stelle verantwortlich fühlte, machte die Yoga-Übungen, weil er einfach keine andere Lösung sah und nahm die eventuellen Risiken mit in Kauf.

Man könnte sich fragen, ob er so falsch gehandelt hat. Die Natur ist streng in ihrer Gerechtigkeit, aber auch barmherzig; und wenn die Motive dieses Mannes wirklich selbstlos sind, wird das Übel, das er möglicherweise durch die Übungen hervorruft, durch den Einfluss der selbstlosen Seite seiner Natur gemildert. Man kann nur hoffen, dass die Übungen, die ihm vorgeschrieben werden, einfach bleiben und dass in seinem fundamentalen pranischen Gleichgewicht keine ernsthaften Beeinträchtigungen auftreten. Ich habe großes Mitgefühl für alle, die sich scheinbar zu bestimmten Schritten gezwungen sehen, weil sie die Dinge lediglich kurzfristig betrachten, die sie aber aus einer größeren Perspektive als unvernünftig einschätzen würden. Außerdem gibt es im Leben eines jeden Menschens Momente, in denen er handeln muss, auch dann, wenn er sich über die wahre Natur seines Problems nicht im Klaren ist oder wenn es bedeutet, dass er etwas opfern muss, auf das er großen Wert legt. Letztlich bestimmt das Motiv alles und wird die Waagschale entweder zu seinem Vor- oder Nachteil neigen.

Nein, ich verurteile die Anwendung von Yoga im Westen nicht nur, weil er importiert wurde und fremd für uns ist, auch nicht, weil er mit so wenig Sachverstand in unseren westlichen psychologischen Boden verpflanzt wurde. Aber gerade weil unsere Entwicklung sich in einer ganz anderen Richtung vollzieht als im Osten, können wir gar nicht sicher sein, dass die hinduistischen Methoden der Seelenkultur für uns geeignet sind. Es kommt noch dazu, dass die Yogis und Swamis, die hierher kommen, um zu unterrichten, wie aufrichtig sie auch sein mögen, in den meisten Fällen nicht viel mehr mitbringen als das Beiwerk einiger entarteter Kenntnisse – die Reste einer einst wahrhaft spirituellen Wissenschaft. Die Yogis des alten Indien besaßen große Kenntnisse bezüglich der feineren Energien, die im Menschen ihre Brennpunkte haben und die durch ihn wirken. Sie lehrten, dass das Ausüben von Yoga mit dem ausschließlichen Ziel, einen starken Körper zu bekommen, gleichbedeutend damit ist, das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Für sie war Yoga an erster Stelle ein Prinzip der Reinigung und der Übung. Das einzige Ziel dieses Prinzips war es, die „Vereinigung“ zu erreichen (das ist die Bedeutung des Wortes Yoga) oder das Eins-Sein mit dem Göttlichen Selbst oder Ātman in uns. Wenn als Nebenprodukt der Körper gesund wurde, war das wunderbar, aber es war nie das Ziel.

Ich richte meine Worte gegen die falsche Anwendung dieser Praktiken durch östliche Yogis in unserer Zeit und auch durch westliche Anwender, die keine vollständige Kenntnis über die innere Konstitution des Menschen haben. Das Problem wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die Lehren der Yogis im Kern nicht falsch sind, sondern dass sie auf Halbwahrheiten basieren, die nur teilweise verstanden und im Allgemeinen daher falsch angewendet werden. Der reine Yoga, so wie er in der Bhagavad-Gītā gelehrt wird, ist eine spirituelle Übung, die das Äußerste an Selbstaufopferung und Selbstbeherrschung verlangt und überhaupt nichts mit körperlichen oder psychischen Übungen zu tun hat.

Nun, wohin führt all das?

Es hat vielleicht den Anschein, als ob ich mich um die Schwierigkeit herumwinde, und das ist in gewissem Sinne auch der Fall, aber nicht ohne Grund. Was ich versuche, ist, das Bewusstsein zu erheben, damit wir den Menschen aus einer höheren Perspektive betrachten und nicht von einem Maulwurfshügel im Tal aus. Wie Sie bemerken, ist dies kein einfaches Thema, da wir es nicht nur mit dem physischen Körper zu tun haben – einem komplizierten, wunderbaren Instrument –, sondern mit einer ganzen Reihe unsichtbarer Energien, die durch den Menschen fließen. Energien und Kräfte, die sich nicht auf unser eigenes Wesen beschränken, sondern die in und durch die uns umgebende Natur fließen, andere menschliche Wesen einbegriffen.

Krankheiten spielen im Leben des Menschen eine wichtige Rolle, denn fast jeder hat oder bekommt damit in seinem Leben zu tun. Lange Zeit ging man davon aus, dass Krankheiten lediglich physisch verursacht werden, aber allmählich entdeckte man, dass auch psychische und andere Faktoren Krankheiten hervorrufen können.

Vom theosophischen Standpunkt aus gesehen haben alle Krankheiten, unabhängig davon, in welcher Form sie sich zum Ausdruck bringen, ihren Ursprung und ihr Ende im Denken. Ich spreche jetzt von Ursachen, denn die Folgen wirken sich natürlich im physischen Körper aus. Wir brauchen nicht die Einzelheiten zu kennen, wann und wie die Krankheit beginnt und auch nicht, welcher bestimmte Gedanke oder welche Tat sie entstehen ließ; aber wenn wir innerlich geduldig sind und ausreichend Ruhe haben, können wir meistens herausfinden, welche Eigenschaft der inneren Disharmonie der verursachende Samen gewesen sein könnte, der die äußere Störung schließlich verursacht hat. Wenn in unserer Lebensgeschichte die Folgen von Verfehlungen in der Vergangenheit schließlich die physische Ebene erreichen, entsteht automatisch eine Störung im Gleichgewicht, und diese Störung wiederum verursacht das Un-wohlsein. Es kann sich um eine lediglich zeitlich begrenzte Störung handeln, deren Ursache leicht auf einen emotionalen oder mentalen Zustand zurückzuführen ist. Aber wenn wir von einem ernsthaften Leiden oder von einer nicht heilbaren Krankheit getroffen werden, die scheinbar vom Himmel fällt, ist es wahrscheinlich, dass die Ursachen in einer fernen Vergangenheit liegen.

Alle heiligen Schriften lehren, dass das, was wir mit Gedanken oder Taten säen, einmal von uns geerntet werden muss; dass jeder Aktion eine damit übereinstimmende Reaktion folgt und dass es für jede Folge einmal eine Ursache gegeben hat. Daraus folgt, dass alles, was wir in diesem Leben erfahren, das Resultat der Qualität der Samen ist, die wir einst in das Feld unseres Denkens säten. Diese Samen werden zu ihrer Zeit in der Form von Freude oder Leid erblühen. Wenn wir nun Schmerzen empfinden oder uns unwohl fühlen, können wir erstens sicher sein, dass dies der wirksamste Weg der Natur ist, uns dabei zu unterstützen, dass wir unsere innere Gesundheit wieder ins Gleichgewicht bringen, und zweitens uns zu befähigen, auf der Leiter des Wachstums einen kleinen Schritt höher zu steigen.

Was geschieht nun aber, wenn wir in der Gesundbeterei Zuflucht suchen oder versuchen, das Leiden durch mentale Heilung oder Yoga-Therapie zu beheben, die, unter welchem Deckmantel auch immer, den Geist und den Willen des Patienten in falscher Weise beeinflussen? Vielleicht gelingt es, den Schmerz zu vertreiben. Aber ist damit das störende Element, das den Schmerz verursachte, recht behandelt worden und bekam es eine Gelegenheit, unseren Organismus zu verlassen? Oder wurde die Krankheit weiter nach innen zurückgedrängt, in eine subtilere Ebene unserer Konstitution, um später noch machtvoller wiederzukehren? Das sind Fragen, die wir uns äußerst ernsthaft stellen sollten.

Wenn ich krank wäre und die üblichen Mittel wie Ruhe und viel zu trinken keine Linderung brächten, würde ich einen zuverlässigen Arzt aufsuchen, zu dem ich Vertrauen hätte; und ich würde versuchen, mit seiner Hilfe meinen Organismus von Unreinheiten zu befreien. Unsere Ärzte behaupten nicht, dass sie alles wissen, und sie selbst sind die ersten, die das eingestehen; die Ärzteschaft besteht zum größten Teil aus aufrichtigen und ergebenen Männern und Frauen, die einen heiligen Eid ablegten, um mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu versuchen, Kranke zu heilen und das Leben zu bewahren. Selbstverständlich ist eine zu unachtsame und häufige Anwendung von Medikamenten gefährlich und sollte vermieden werden, vor allen Dingen in den Fällen, wo gesunde Methoden der Hygiene und Ruhe der Natur Gelegenheit geben können, den Heilungsprozess zu leiten und die gestörten Prāṇas zu ordnen.

Vergessen wir aber nicht, dass Karma uns in diesem besonderen Zyklus inkarnieren ließ, einem Zyklus in dem jeder Aspekt des menschlichen Könnens eine Umwälzung erlebt, auch die Heilmethoden. Alte Maßstäbe werden durch neue ersetzt, und obgleich die neuen nicht immer besser sind als die alten, hat die medizinische Wissenschaft enorme Fortschritte gemacht und hat durch ihre erstaunlichen Entdeckungen hunderttausenden von Männern und Frauen unsagbar viel Gutes gebracht. Das heißt nicht, dass wir, sobald wir krank werden, jedes neue Medikament ausprobieren müssen; sowohl auf diesem wie auch auf anderen Gebieten muss man sein Unterscheidungsvermögen gebrauchen.

Wenn wir gründlich darüber nachdenken, liegt die eigentliche Schwierigkeit vielleicht bei uns selbst. Die meisten von uns müssen unter Druck arbeiten, wir haben das Gefühl, dass wir es uns nicht leisten können, krank zu werden. Wenn dann doch etwas schief geht, muss eine Injektion mit der einen oder anderen kräftigen Medizin uns wieder rasch auf die Beine bringen. Wir haben kein sonderliches Interesse daran, uns selbst einmal gründlich zu beobachten, um herauszufinden zu versuchen, was die Ursache unserer Schwierigkeiten gewesen sein mag. Was wir brauchen sind nicht mehr Arzneimittel, sondern eine Tinktur von echtem, altmodischem, gesundem Menschenverstand, kombiniert mit der Wiederherstellung der spirituellen Werte. Wir müssen allmählich verstehen lernen, warum der Mensch hier auf Erden ist, was sein wahres Ziel ist und woher es kommt, dass das, was er denkt und fühlt, sein körperliches Wohlbefinden unmittelbar beeinflusst.

Es wäre natürlich ideal, sowohl für die Patienten wie für die Ärzte, wenn wir Meta-Ärzte würden, das heißt Ärzte für den ganzen Menschen und nicht nur für den Körper. Alles was der Arzt machen kann, ist die Diagnose der in Erscheinung getretenen Störung zu stellen, ein Gegengift zu verordnen und zu hoffen, dass der Körper stark genug ist, das Gift aus dem Körper zu schaffen.

Dies mag so sein und die heutige medizinische Wissenschaft (und auch wir) haben noch einen langen Weg vor uns. Ich würde dennoch lieber eine zeitlich begrenzte körperliche Störung infolge einer Überdosierung von Arzneimitteln erleiden, als mich dem so viel schädlicheren und langwierigen psychologischen Einfluss eines anderen zu unterwerfen – ob es sich dabei um einen Yoga-Therapeuten, einen Gesundbeter oder einen Geistheiler handelt, wenn sie auch alle mit den besten Absichten handeln. Wenn ein Arzt einen Fehler macht, kommt nur der physische Körper zu Schaden. Das ist der einzige Teil unserer ganzen Konstitution, der darunter leiden würde. Das wirkliche Selbst, das Element, das Geburt und Tod überlebt, bleibt unberührt und könnte sogar durch die Härte der Erfahrung gestärkt werden.

Ich muss gestehen, dass diese Argumente für diejenigen nicht sehr hilfreich sind, die von der Reinkarnation nicht überzeugt sind. Es ist nicht unser Ziel zu versuchen, die Reinkarnation zu beweisen. Wie jemand darüber denkt, ist seine eigene Sache. Aber es ist schwierig, über das Thema der Krankheiten zu sprechen, ohne es vom Standpunkt des reinkarnierenden Egos zu betrachten.

Nehmen wir zum Beispiel einmal an, dass ich an einer ernsthaften Krankheit leide und dass mein Arzt mir überhaupt nicht helfen kann. Ich fasse den Entschluss, einen Heiler aufzusuchen, um dort Erleichterung zu finden. Er erkennt, was mir fehlt und sagt, er könne mir helfen, wenn ich dies oder jenes tun würde. Es fängt alles ganz harmlos an, aber es kann ganz anders enden, möglicherweise werde ich die Folgen erst in der nächsten Inkarnation begreifen. Wenn ich es zulasse, dass irgendein Aspekt der psychischen Natur des Heilers oder des Yoga-Therapeuten sich mit meiner eigenen psychischen Natur verbindet, ist die Möglichkeit umso größer, dass ein negativer Einfluss zur Auswirkung kommt; wie unbewusst diese Beeinflussung auch sein mag, es befindet sich darin ein Element, das die Alten Zauberei oder schwarze Magie nannten. Das sind scharfe Worte, aber es ist höchste Zeit, dass wir uns die Warnungen zu Herzen nehmen, die durch Jahrhunderte überliefert wurden und die so überzeugend von dem Apostel Jakobus formuliert wurden, wenn er sagt, dass es eine „Weisheit gibt, die von oben ist“, die „rein … voller Gnaden und guten Früchten“ ist und eine andere „Weisheit, die nicht von oben kommt, sondern irdisch, sinnlich und teuflisch“ ist.

Was heißt das? Wir haben gesagt, dass alle Krankheiten im Denken ihren Ursprung haben; aber wo enden sie? Wir dürfen nicht vergessen, dass der Verstand in seiner Funktion eigentlich dual ist; das heißt nicht, dass er geteilt ist, sondern dass seine höheren Bereiche mit dem spirituellen und intuitiven Teil des Menschen verschmelzen, mit Buddhi oder dem ‘erleuchteten’ Aspekt, während seine niedrigeren Aspekte sich mit unserer Begierde und unserer leidenschaftlichen Natur verbinden. Daher können wir sagen, dass das Denkvermögen zwei unterschiedliche Charaktere in sich trägt: Der eine ist mit der „Weisheit, die von oben ist“, verwandt und der andere wird von dem, was „irdisch und sinnlich“ ist, angezogen. Das höhere Denkvermögen gehört zum unsterblichen Teil unserer Konstitution oder zum höheren, reinkarnierenden Element, das in zahllosen Leben seine Erfahrungen gemacht hat, und zwar während Millionen von Jahren, von dem Augenblick an, da die Menschheit sich zum ersten Mal ihrer selbst bewusst wurde und beschloss, sich den Weg zum Spirituellen zurück zu erkämpfen.

Wo haben nun Krankheiten ihren Ursprung? In uns selbst, in jenem Bereich des Denkvermögens, der andauernd „zum Irdischen“ hinabgezogen wird anstatt „empor“. Beim Fortschreiten der Zyklen und dem Immer-wieder-auf-Erden-geboren-Werden, sinken die Folgen unseres falschen Denkens allmählich bis in den äußersten Teil unserer Konstitution hinab, um am Ende mittels körperlicher Krankheiten einen Ausweg aus unserem Organismus zu suchen. Aus Disharmonie geboren, werden die Folgen der Fehltritte, wenn sie den Körper erreichen, automatisch Schmerz verursachen. Und weshalb? Um uns auf die einzige Art, zu der die Natur imstande ist – nämlich durch Leiden – mitzuteilen, dass irgendetwas irgendwo geändert werden muss.

Die Gefahr einer nicht natürlichen Genesung liegt an erster Stelle auf der inneren Ebene, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die unmittelbaren Wirkungen der Heilung dem Menschen oftmals viel schneller Erleichterung von den Folgen der Schmerzen bringen als die übliche Medizin. Aber genau das ist der springende Punkt: Wenn wir – anstatt einer Krankheit die Gelegenheit zu geben, sich durch unseren physischen Körper auf natürliche Weise auszuwirken – zu schnell geheilt werden, indem wir uns diesen sogenannten okkulten Heilmethoden unterwerfen, durchkreuzen wir möglicherweise den mitleidsvollen Plan der Natur. Eigentlich müssten wir sehr dankbar sein, dass die Krankheit, deren Kern in einer mentalen oder emotionalen Instabilität verborgen liegt, am Ende die physische Ebene erreicht, auf der wir die Ursache ein für alle Mal endgültig beseitigen können.

Lassen Sie körperliche Folgen mit der richtigen medizinischen Fürsorge auf der Ebene der Folgen behandeln, aber schauen Sie nach innen, um die Ursachen zu erkennen. Was wir auch tun, wir sollen die Umstände, die für uns eine Erfahrung bedeuten, nicht so hastig aus dem Weg räumen, dass der Wert des Schmerzes für uns nicht verloren geht. Letztendlich sind Schmerzen und Unbequemlichkeiten Wegweiser der Natur auf der Straße des Lebens, die uns immer wieder dazu zwingen, uns selbst zu prüfen und herauszufinden, wo wir in unserem Denken und in unserer inneren Haltung in die Irre gegangen sind. Indem wir den Schmerz durch die Anwendung von unnatürlichen und nicht-physischen Methoden unmittelbar beseitigen, bevor wir die Gelegenheit hatten, seine segensreichen Nebenwirkungen zu erfahren, berauben wir uns einer kostbaren Gelegenheit, gerade die Lektion zu lernen, die wir brauchen.

Manchmal scheint es, als müssten die besten Charaktere am meisten leiden. Wir alle haben Menschen gekannt, deren Leidensbecher, mental und körperlich, überzulaufen scheint und die sich trotzdem nicht schlecht fühlten. Sie weigern sich, dem Selbstmitleid zu erliegen und lassen sich deshalb nicht durch Umstände behindern, die weniger starke Seelen übermannen könnten. Ihre Schwierigkeiten sind für sie zweitrangig in Vergleich zu dem Wissen, dass sie – sobald sie die Laufzeit ihres Leidens zu Ende bringen, selbst wenn der Tod dazwischen kommt – in der Zukunft für einen größeren Dienst befreit und gestärkt sein werden. Vom inneren Standpunkt aus gesehen wird Schmerz für einen ernsthaften Schüler zum Schönsten, was es auf der Welt gibt. Nichts, auch nicht der Samen in der Erde, kann ohne Schmerzen wachsen. Intellektuell können wir das wohl einsehen, aber wenn es uns persönlich überfällt, vergessen wir es gerne. Dennoch ist es die einfache Arithmetik des reinen Okkultismus, die wir verstehen und festhalten müssen, wenn wir je das ABC unseres Daseins hier auf Erden begreifen wollen.

Es gibt noch eine andere Art von Leiden, das nur jene seltenen Wesen kennen, die freiwillig Leiden auf sich nehmen, damit anderen geholfen wird. Sie aber gehören einer Klasse an, die weit über dem Gewöhnlichen steht; und ihr Opfer wird mit Glorie gekrönt.

Fußnoten

1. Zusammenfassung eines „Gespräches am runden Tisch“, wiedergegeben in Sunrise, Heft 5/1960, Vorsitzender: James A. Long. [back]

Das Mysterium von Gut und Böse

Der sogenannte Sündenfall des Menschen – in der Bedeutung, die man ihm meistens beimisst – bezieht sich auf das Ereignis im Garten Eden, als die Schlange Adam und Eva dazu verführte, die verbotenen Früchte vom Baum des Lebens zu essen. So erlangten die Menschen Kenntnis von Gut und Böse. Sie fielen in Ungnade, mussten das Paradies verlassen und waren von nun an gemeinsam mit ihren Nachkommen mit der Erbsünde belastet. Nach der Alten Weisheit steht der Garten Eden für jene Periode in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die mit dem Kindheitsstadium verglichen werden kann. Die Menschheit war noch nicht im Besitz des Selbstbewusstseins, das in der Genesis durch die Schlange geweckt wird, die in ihrer Rolle als Lichtbringer (was die Bedeutung des Wortes Luzifer ist) auftritt. Der Sündenfall ist also in Wirklichkeit ein wichtiger Schritt in der Evolution der Menschheit, durch den sie befähigt wurde, zielbewusst zu wählen und ihre eigene Evolution selbstständig zu beginnen.

Das ist das Licht, das die Weisheitsreligion auf das Mysterium von Gut und Böse wirft, das überall, wo das Wissen über die alten Lehren verloren geht, die Menschen verwirrt. Die meisten von den Menschen verfassten Theorien zur Erklärung dieses Mysteriums beachten die göttliche Seele im Menschen nicht. Der Mensch, ein potenzieller Gott im Äußeren, ein wirklicher Gott im Inneren, hat sich selbst die Überzeugung aufgedrängt, ein Wurm im Staube zu sein. Anstatt das Augenmerk nach innen zu lenken, haben wir den Blick nach außen gewendet und sehen allein die tanzenden Schatten der Illusion. Wir haben unseren Weg im Labyrinth der Materie verloren und den Faden fallen gelassen, der uns zu unserer Heimat zurückführen könnte.

Hat Gott die Menschen tatsächlich ‘böse’ erschaffen? Sind sie unwiderruflich und hilflos zur Bestrafung verdammt? Zum Glück beginnen wir in zunehmendem Maße, den erniedrigenden Charakter dieser Vorstellung einzusehen. Manche Menschen vertrauen auf ihre Intuition und suchen erst gar nicht nach einer Lösung; sie wenden sich unbewusst an ihren inneren Gott. Andere kümmern sich nicht um Konsequenzen und folgen im Leben nur ihren Wünschen. Die Theosophie gibt eine Antwort, die ernsthafte Erwägung verdient.

Das, was mit der großen Linie der Evolution übereinstimmt, was die Entfaltung göttlicher Möglichkeiten fördert, was nach stets größerer Vollkommenheit strebt – das ist gut. Das ganze Universum unterstützt diese Richtung. Aber das, was sich dieser Richtung widersetzt, was das Muster der Natur zu behindern trachtet, ist falsch und wird früher oder später untergehen. Diese Widerstände sind zwar notwendig, um Kraft und Wissen zu entwickeln, aber die Gegenkräfte gehören im Plan der Natur normalerweise zum Bereich der Unwissenheit. Wenn wir also über Hindernisse stolpern, die wir infolge unserer dualen Natur in uns selbst finden müssen, lernen und wachsen wir. Wenn sich jedoch das persönliche Ego bewusst mit der niederen, materiellen Seite der Natur verbindet, werden die Folgen mit dem Wachstum immer ernsthafter und müssen – wenn darauf beharrt wird – zur Vernichtung dieser Persönlichkeit führen.

Bevor die Mānasaputras in die Menschheit inkarnierten, konnte es keine Sünde oder moralischen Fehler geben, aber in dem Moment, als der Verstand erwachte, entstand das Bewusstsein von Gut und Böse, es gab einen freien Willen, aber auch Unerfahrenheit und Unwissenheit. Wie gesagt besteht der richtige und einfache Weg darin, in Harmonie mit den großen Strömen der Evolution zu arbeiten. Wer das tut, hinter dem steht das Universum, und er findet keine Hindernisse in sich. Falsch ist es, in die andere Richtung zu rudern.

Jedoch muss die Frage beantwortet werden, warum ein Mensch gegen das moralische Gesetz verstoßen möchte. Dr. G. de Purucker sagt in Studies in Occult Philosophy, Seite 72:

„Was ist es im Menschen, das ihn sündigen lässt?“ Welcher Teil des Menschen sündigt? Ist es sein Körper? Offensichtlich nicht, denn sein Körper ist nicht mehr als ein Sklave, ein Werkzeug für den innewohnenden Geist. … Ist es sein Geist? Offensichtlich nicht, denn er ist ex hypothesis makellos, ohne Sünde und aus der Essenz des Göttlichen. Es ist auch weder der Astralkörper, noch sind es die bloßen Lebenskräfte, denn letztere sind nur vitale Ströme, die durch den Willen getrieben und vom Denkvermögen geleitet werden. Nun könnte angenommen werden, es sei das Kāma im Menschen, das ihn sündigen lässt – seine Wünsche und Leidenschaften. … Nein. Was im Menschen sündigt, ist seine Intelligenz. Die Sünde liegt in der Wahl, in der Handlung. Es ist der Pfad zur rechten oder zur linken Hand. In dieser Wahl liegt Sünde oder Übeltun.

Nehmen wir zum Beispiel ein Kind; ein Kind, das noch nicht gelernt hat, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, sündigt nicht, was es auch immer tut. Es ist intellektuell unbewusst, unwissend. Ein Tier sündigt nicht, es besitzt nicht die Kraft der menschlichen Wahl. Diese Kraft entwickelt sich langsam, weil die mānasischen Kräfte ihrerseits allmählich in Tätigkeit treten, aber die Fähigkeit zur Wahl, die einem Tier innewohnt, ist im Vergleich mit der menschlichen nur unbedeutend. Deshalb sagen wir, dass ein Tier nicht sündigen kann. Der Mensch sündigt, weil er die Wahl trifft, die inneren Kräfte zu missbrauchen.

… Und genau aus diesem Grund fiel die vierte Wurzelrasse. Weder das Kāma, das in der vierten Wurzelrasse am stärksten entwickelt oder evolviert war, noch die ungeheuren Kräfte, die durch die üble Wahl hervorgerufen wurden, brachten die schrecklichen Folgen zuwege. Das Übel lag in der falschen Anwendung des Verstandes. Der Mensch sündigte in seinem Intellekt, in seinen Imaginationen, seinem Denken und Wählen. Es gibt ein altes lateinisches Sprichwort, das seit frühen Zeiten von den Christen angenommen wurde: Ubi voluntas est, peccatum est; ubi voluntas non est, peccatum abest. Wo der Wille ist (das heißt die Wahl), ist Sünde; wo kein Wille ist (das heißt keine Wahl), ist keine Sünde. Ein völlig geisteskranker Mensch sündigt nicht, was auch immer er tut, denn für ihn gibt es keine Wahl. …

Sobald die Söhne des Denkens auf dem absteigenden Bogen in den unbewussten ‘Menschen’ jener Zeit das Feuer entfacht hatten, konnten diese sündigen und sie taten es. Da sie aber noch verhältnismäßig etherisch und wenig evolviert waren, war ihre Wahl schwach und schwankend, ohne viel Kraft hinter ihrem Kāma. Die treibende Kraft war noch nicht voll zur Geltung gebracht. Erst in der vierten Wurzelrasse stand sie in voller Blüte, und der Intellekt konnte kraftvoll wählen und handeln. Darum wird in der fünften Wurzelrasse die große Zeit der Entscheidung kommen, sobald der Intellekt voll entwickelt sein wird.

Für jene Wesen, die sich ober- oder unterhalb der Ebene befinden, auf der das menschliche Bewusstsein sich gegenwärtig bewegt, gibt es keine Empfindung des Getrenntseins. Die über das menschliche Stadium hinaus gestiegenen vollkommenen Wesen erkennen in ihrer Individualität ihre Einheit mit allem Leben. Der Durchschnittsmensch lebt jedoch zum größten Teil in seiner Persönlichkeit; und gerade diese beschränkte und unentwickelte Persönlichkeit unterliegt einer Täuschung, wenn sie meint, sie könne etwas nur für sich allein erlangen oder festhalten. Selbstsucht ist Sünde und Torheit und wahrlich die Wurzel des sogenannten Bösen. Wenn das weit genug geht, verengen sich die Kanäle, durch welche dem Menschen die Lebenskräfte zufließen, und am Ende welkt er wie ein Blatt im Herbst, wenn der Saft es nicht länger erreicht. Und dennoch könnte es keinen moralischen Fortschritt ohne die Kraft geben, die aus der Überwindung dieser Täuschung gewonnen werden kann. Wenn bestimmte grobe Formen der Selbstsucht überholt oder besiegt sind, werden sie umgestaltet in Bestrebungen, die sich mit dem Grad des Wachstums erweitern, bis der Mensch mit vollem Verständnis und ausreichend erwachtem spirituellem Willen in den größeren Zyklus übergeht und sich selbst als Teil des Ganzen erkennt.

Die Komplexität der menschlichen Natur ist nicht bloß eine Redensart. Es gibt tatsächlich verschiedene Selbste im Menschen, in verschiedenen Stadien der Evolution und mit unterschiedlichen Wünschen, die erfüllt werden wollen – in der Tat ein Mysterium, aber eines, das gelöst werden kann. Die evolvierende Seele kann und soll ihren richtigen Platz finden und die Führung über die zügellosen Kräfte übernehmen, die nur all zu gerne die Macht ergreifen und im menschlichen Tempel Chaos verursachen würden. Wenn der Mensch diesen Platz und die Führung erreicht, wird er wahrlich zu einem Gott.

Aber so lange dies noch nicht der Fall ist, wird das niedere Denken, das wächst und sich entfaltet, Fehler machen. Es benutzt sich selbst auf verkehrte Weise, da es noch nicht gelernt hat, in Harmonie mit dem universalen Denken zu handeln, von dem es ein Teil ist. Schmerz, Krankheit und Leiden gehen aus diesem wachsenden Verstand hervor, das heißt, sie sind auf seine Fehler zurückzuführen, die zu Disharmonie im Körper und zu Krankheit führen. Physische Fehler verursachen physische Schwierigkeiten. Mentale Störungen verursachen mentale und später physische Qualen. Durch Schmerz und Leiden lernen wir. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, etwas schneller zu lernen. Leider unterstützen wir oft verkehrte Gedanken, halten sie fest und nähren sie solange, bis ihre Kraft ungeheuer groß ist. Glücklich ist derjenige, der erwacht und beschließt, mit seiner höheren Natur zusammenzuarbeiten, bevor diese niederen Kräfte die Oberhand gewinnen. In Theosophy: The Path of the Mystic (Seite 22-25) von Katherine Tingley finden wir folgende Worte – erfüllt von Inspiration, Ermutigung und – Warnung:

Es gibt eine große Entdeckung, die ein jeder selbst machen muss: dass die menschliche Natur dual ist und dass im Menschen unablässig ein Kampf tobt zwischen dem höheren und dem niederen Selbst, zwischen dem Engel und dem Dämon. …

Diese beiden Kräfte – die physische Kraft, geführt durch die spirituelle, und das Denken, erleuchtet durch Schätze von Wahrheit und Inspiration aus dem Höheren Selbst – diese beiden führen zu unglaublichen Ergebnissen, wenn sie zusammenarbeiten. Es wird auch keine Ewigkeit dauern, diese Dinge zustande zu bringen. Selbst die Atome unseres Körpers können vom Feuer göttlichen Lebens berührt, mit dem Denken und mit der Seele in Einklang gebracht und durch das Höhere Selbst beherrscht werden, genau wie ein Meister der Musik sein Instrument beherrscht.

Denn Leben ist Licht und Licht ist Leben und der Christos-Geist ist in entsprechendem Maße überall. … Könnten wir unser Denken von falschen Auffassungen befreien, von der Natur lernen und der inneren Christos-Stimme lauschen – welche Offenbarungen würden uns zuteil werden! Wir wären dann in der Lage zu sagen: Dieses ist unsterblich, jenes ist sterblich, das gehört zur animalischen Natur des Menschen und das zur spirituellen. Die Macht dazu, das ist die Macht, welche wir brauchen, welche uns sozusagen vom Tod auferweckt und uns zu Licht und Erleuchtung geleitet. …

Von der Zeit an, wenn der Jünger ein Gelübde1 ablegt, wird er stets von zwei Kräften begleitet: zwei unsichtbare Gefährten, gebildet aus seiner eigenen Essenz – die eine bösartig, die andere göttlich. Die Absonderung oder Objektivierung der entgegengesetzten Pole seines Selbstbewusstseins stellen seine guten und bösen Engel dar, den Augias und sein Gegenstück, und jeder der beiden versucht, das Wesen des Jüngers zu beherrschen. Einer von beiden muss schließlich die Oberhand erlangen; durch jede Handlung und durch jeden Gedanken im Leben des Jüngers wird entweder der eine oder der andere gestärkt. Es sind seine höheren und niederen Fähigkeiten, die langsam in Machtfülle übergehen, dem entsprechend, wie die Energien (sowohl die guten als auch die schlechten) erweckt werden.

Unsere Aufgabe liegt darin, immer mehr von uns auf das wirkliche Schlachtfeld zu verlegen. Dieses Feld besteht aus den Gefühlen und Gedanken der Menschheit, deshalb wird der Kampf mit rechtem Fühlen und rechtem Denken geführt. Unsere Stärke liegt darin, positiv zu bleiben, in unseren Herzen eine beständige Freude zu bewahren, jeden Augenblick über alle die umherflutenden großen Ideen zu meditieren, bis wir sie erfasst und uns zu eigen gemacht haben; in einer Meditation mit der Vorstellung der Erhabenheit des zukünftigen Lebens der Menschheit; indem wir bei dem Konzept der Bruderschaft verweilen.

Wir können jedoch diesen Punkt spiritueller Unterscheidung niemals erreichen, bevor wir nicht in unserem Herzen etwas Neues gefunden haben: eine umfassendere Sympathie für alles, was lebt, und eine breitere, tiefere, erhabenere Vorstellung vom menschlichen Leben und den herrlichen Gesetzen, welche es regieren.

Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch in gewisser Hinsicht ein Brennpunkt all der guten und bösen Elemente ist, denen wir in der Vergangenheit bewusstes Leben verliehen haben. In jedem Augenblick, in dem wir uns bewusst der guten oder der schlechten Seite zuwenden, nistet sich das eine oder andere von beiden in unser Gemüt ein und füllt es aus. Und es ist einleuchtend, dass unsere Verbindung mit dem einen oder anderen, zu dem wir mehr neigen, zu Sieg oder Niederlage führen. Wie geringfügig diese Verbindung auch sein mag, sie muss – sobald sie unterstützt wird – zur betreffenden Seite unserer Natur und des Universums hinführen und alles mit einbeziehen, was sich dort befindet. Wenn dies wahr ist, so folgt daraus, dass unser bewusstes Wollen, irgendeinen Fehler oder irgendeine Schwäche zu dulden und zu unterstützen, eine unermesslich gewichtige Abwärtsbewegung darstellt.

Wenn jedoch die Bemühungen fortgesetzt werden, wenn sich der Schüler durch Fehlschläge oder Schwächen nicht entmutigen lässt und immer ‘ebensoviel unerschrockene aufwärtsgerichtete Bemühungen’ folgen, bekommt er stets die Hilfe und den Rat des göttlichen ‘Daimon’, des ‘Kämpfers’. Der Sieg, wie entfernt er auch sein mag, ist gewiss. Denn das ist eine unüberwindbare Kraft, ‘ewig und zuverlässig’, eine tatsächliche Gegenwart und Inspiration, wenn wir sie nur erkennen wollen und auf sie vertrauen, vertrauen, vertrauen.

Fußnoten

1. Das Gelübde richtet sich an das eigene Höhere Selbst. [back]

Archäologie und die Rückkehr von Zivilisationen

Die Bewegung der physischen Erde wird, der alten Lehre zufolge, von einer gleichen Bewegung in der Welt des Intellekts begleitet – die spirituelle Evolution der Welt schreitet wie die physische in Zyklen voran.

So erkennen wir in der Geschichte einen steten Wechsel von Ebbe und Flut in den Gezeiten des menschlichen Fortschritts. Die großen Kaiser- und Königreiche der Welt sinken wieder zusammen, nachdem sie den Gipfel ihrer Größe erreicht haben, in Übereinstimmung mit demselben Gesetz, demzufolge sie emporgestiegen sind, bis die Menschheit schließlich, nachdem sie den tiefsten Punkt durchschritten hat, sich wieder aufmacht und erneut emporsteigt, wobei der Stand des von ihr Errungenen dem Gesetz der aufsteigenden zyklischen Evolution entsprechend etwas höher ist als der Punkt, von dem aus sie zuvor herabstieg.

Isis Unveiled, I: 34.

Aber diese Zyklen – Räder innerhalb von Rädern, … betreffen nicht die gesamte Menschheit zu ein- und derselben Zeit. Daraus resultiert, wie wir sehen, die Schwierigkeit, sie zu verstehen und zwischen ihnen zu unterscheiden. Das betrifft insbesondere ihre körperlichen und spirituellen Auswirkungen, wenn wir ihre Beziehung zur betreffenden Stellung der Nationen und Rassen in ihrem Schicksal und in ihrer Evolution und ihre Auswirkung auf sie nicht vollständig verstanden haben. Dieses System kann nicht verstanden werden, wenn die spirituellen Auswirkungen dieser Perioden – sozusagen vom karmischen Gesetz vorherbestimmt – von ihrem physischen Lauf getrennt betrachtet werden.

The Secret Doctrine, I: 641-642

Ein ganzes Buch könnte über die Tatsachen geschrieben werden, welche in dieser Zitatstelle dargestellt sind. Nicht einmal eine ganze Reihe von Bänden würde für dieses besonders interessante Thema ausreichen, das teilweise in diesem kleinen Buch umrissen wird. Die Lehren der Geheimlehre sind keine Theorien oder hypothetischen Halbwahrheiten. Es sind in der Tat konkrete Berichte, welche die Jahrhunderte hindurch von den am höchsten entwickelten und edelsten Menschen der Rasse aufbewahrt wurden. Diese Berichte sind sicher in den geheimen Büchern der Großen Weißen Loge der Meister aufbewahrt, die H. P. Blavatsky als Botin zu ihren Mitmenschen sandten.

Was diese alten Aufzeichnungen über die Urgeschichte erzählen, stellt alles, was historisch über die Lebensgeschichte des Menschen und der Erde bekannt ist, in den Schatten. In der großartigen Perspektive des Ganzen finden alle die verwirrenden Angaben über Evolution, Archäologie, Geologie und so weiter ihren logischen Platz und Zeitpunkt. Ein bedeutsames Beispiel in diesem Schema ist die Tatsache, dass im Prozess des menschlichen Fortschritts nicht alle Menschen gemeinsam und gleichzeitig dasselbe Niveau erreichen. Das ist eine Erklärung für die gleichzeitig in denselben geologischen Schichten auftretenden archäologischen Funde von hohen und niedrigen Zivilisationen. Das erklärt auch das Auftreten von übereinander gebauten Städten, wobei die unteren Schichten einen höheren Entwicklungsgrad aufweisen als die oberen.

In verschiedenen Teilen der Welt gab es zur gleichen Zeit Höhlenbewohner, Pfahlbauten, nomadische Jäger, Hirtenvölker und blühende Zivilisationen, die alle ihre eigene, spezielle Evolutionsphase durchliefen.

Es ist völlig natürlich, dass sich Mitglieder der menschlichen Rasse entsprechend ihrer allgemeinen Evolutionsstufe zu kleineren oder größeren Gruppen zusammenschließen. Darüber hinaus ist ein gleichzeitiger Zusammenschluss von Gruppen verschiedener Stufen eine allgemeine Lebensregel. Wir müssen nur an den Schulunterricht denken, von der Grundschule bis hin zu den Universitäten sind die Schüler und Studenten in Gruppen und Klassen eingeteilt. Diese Analogie gilt für die gesamte Menschheitsfamilie als Rasse, wo wir gleichzeitig Vertreter für die Phase der Kindheit, der Jugend, das Erwachsenenalter und das Alter finden können – alle durchlaufen ihre Entwicklung gemeinsam. Die Menschheit hat und hatte immer ihre unterschiedlichen Altersgruppen evolutionären Wachstums. Jede Gruppe erarbeitet ihren rechtmäßigen ‘Platz an der Sonne’ mentaler und spiritueller Erleuchtung. Es ist alles genauso natürlich wie die Tatsache, dass an einem Ort der Tag anbricht, während die Sonne zur gleichen Zeit an einem anderen Ort hoch am Himmel steht, am nächsten Ort untergeht und schließlich an einem weiteren Platz nur schwach vom Mitternachtsmond reflektiert wird – und das alles auf dieser einen Welt.

Evolution ist nur ein anderes Wort für zyklische Gesetzmäßigkeit. Die Rasse bewegt sich nicht en masse in einer linearen Evolution. Diese Tatsache ist offensichtlich, wenn man die Gezeiten der menschlichen Entwicklung beobachtet, die an verschiedenen Orten der modernen Welt ihre Perioden von Ebbe und Flut durchläuft. Die sich gegenüberstehenden Tiden sind für den Beobachter selbstverständlich geworden, nachdem die Luftfahrt und die Medien die Welt zu einem Dorf gemacht haben. Versuchen wir uns einmal einen Piloten bei einem Flug um die Welt vorzustellen, der einen Film über die menschlichen Lebensumstände dreht. Er würde die größten Kontraste finden, lebendige Beispiele sämtlicher mentaler, moralischer und materieller Schichten – von einem barbarischen bis zum hochgebildeten Stadium. Würde diese moderne Welt plötzlich von einer Naturkatastrophe überwältigt und alles in statu quo bewahrt, wie es in Pompei der Fall war, dann würden die Archäologen einer fernen Zukunft eine begrabene, ebenso paradoxe Vergangenheit vorfinden, wie es jetzt bei Ausgrabungen geschieht.

So wie der Mensch von der rotierenden Erde in ihren Bewegungen von einem Tag zum anderen mitgeführt wird und immer wieder seine Arbeit vom vorigen Tag aufnimmt, so erscheinen und verschwinden auch ganze Zivilisationen, die eine Blütezeit erleben und verfallen. Jedes reinkarnierende Ego wird zur richtigen Zeit karmisch wieder an den Ort und zu den Umständen zur Erde hingezogen, wo es den nächsten Schritt auf dem Wege zu weiterer menschlicher Vervollkommnung machen kann. Wie schnell und wie weit ein Mensch während einer einzigen Lebensperiode geht, hängt einzig und allein von ihm selbst ab. Umstände, die für einen schwachen Charakter ein Hindernis darstellen, können für einen anderen Menschen mit einem starken Willen eine Sprosse auf der emporsteigenden Leiter bedeuten. Jeder Mensch wird mit dem Charakter geboren, den er sich selbst geschaffen hat, und jedes Leben bietet Chancen, um mehr von seiner inneren Kraft und Kenntnis hervorzubringen. Das karmische Gesetz begeht keine Irrtümer bei der Zusammenführung von Menschengruppen in einer bestimmten Phase einer Zivilisation. Ebenso wie die Durchschnittsmenschen sind die Höchsten und Niedersten mehr oder weniger eng durch persönliches, nationales und Rassen-Karma miteinander verbunden.

Die bereits weiter oben erwähnten, an verschiedenen Stellen gemachten Funde übereinander gebauter Städte unterschiedlicher kultureller Entwicklungsstufen sind der Beweis für die lebendige Ebbe und Flut des menschlichen Daseins. Die rätselhafte Situation ist ein Anzeichen für den natürlichen zyklischen Lauf der Evolution. Diese ‘Funde’ sind gewöhnlich Wohnorte von Menschen unterschiedlicher Entwicklungsstufen und wurden Schicht um Schicht durch den Staub der Jahrhunderte voneinander getrennt. Die Frage lautet nicht nur, wer diese vergessenen Menschen waren, sondern auch, warum sie alle zur selben Stelle hingezogen wurden, um sich dort niederzulassen? Vielleicht war es ein günstiger Ort für die allgemeinen Interessen einer Gemeinschaft. Möglicherweise reinkarnierten manche von ihnen in mehreren der verschiedenen Schichten. Höchstwahrscheinlich stellte jede Schicht einen kleinerer Zyklus in einem größeren Zyklus dar – mit einem für das Ganze gültigen Ziel. In diesem Fall würde die erste Stadt etwas von ihrem Einfluss hinterlassen, von dem die später kommenden Menschen unbewusst angezogen wurden, die sich dort gemeinsam niederließen. Der denkende Mensch hinterlässt nicht nur auf der materiellen Erde seinen Eindruck. Die vitalen Eindrücke seines inneren Gedanken- und Gefühlslebens spiegeln sich in dem ihn umgebenden Astrallicht wider, das alle diese Bilder festhält. So haben die Bewohner neben greifbaren Überresten in verschiedenen Schichten der Wohnorte und in der Umwelt einen Eindruck einer bestimmten psycho-magnetischen Qualität hinterlassen, die eine ungreifbare Anziehungskraft auf andere Seelen hatte.

Auf dem Gebiet der Entdeckungen dieser alten Wohngebiete ist viel geschehen, seit H. P. Blavatsky im Jahr 1888 darüber schrieb:

Die Überlieferung behauptet, und die Archäologie geht von der Richtigkeit der Legende aus, dass es mehr als eine blühende Stadt in Indien gibt, welche auf verschiedenen anderen Städten aufgebaut ist und so eine sechs oder sieben Stockwerke hohe unterirdische Stadt bildet. Delhi ist eine von ihnen, Allahabad eine andere; Beispiele finden sich selbst in Europa, wie in Florenz, welches auf verschiedenen erloschenen etruskischen und anderen Städten aufgebaut ist.

The Secret Doctrine, II: 220-221

Manche dieser versunkenen Städte haben zu der Erkenntnis beigetragen, dass vieles, was man für legendäre Ereignisse und mythische Gestalten hielt, auf Tatsachen einer ungeschriebenen Vergangenheit gründet. So wird beispielsweise berichtet, dass der oft erwähnte Hügel von Hissarlik, auf dem Troja lag, die Lage der homerischen Stadt enthüllt, „die siebente von unten in einer Gruppe von neun Städten, die zusammen den Hügel bilden“.

Dieselbe Autorin fügt noch hinzu, dass es in Amerika antike Städte gäbe, die nicht einmal eine legendäre Geschichte haben. Sie sagt darüber Folgendes:

Überall entlang der Küste von Peru, auf der ganzen Landenge und in ganz Nordamerika, in den Canyons der Cordilleren, in den unpassierbaren Schluchten der Anden und besonders jenseits des Tales von Mexiko liegen – in Ruinen und verlassen – hunderte einst mächtiger Städte, dem Gedächtnis der Menschen verloren und selbst namenlos geworden. … Bezüglich prähistorischer Bauten sind sowohl Peru als auch Mexiko Rivalen von Ägypten. Die Bauten Perus, die in ihrer Größe den zyklopenartigen Strukturen Ägyptens gleichen, übersteigen die Zahl der ägyptischen. … öffentliche Gebäude, wie Mauern, Festungen, Terrassen, Bewässerungsanlagen, Aquädukte, Brücken, Tempel, Friedhöfe, ganze Städte und vorzüglich angelegte, hunderte Meilen lange Straßen erstrecken sich in einer ununterbrochenen Linie und bedecken das Land beinahe wie ein Netz. … Über die vielen Generationen der Völker, die sie erbauten, weiß die Geschichte nichts und sogar die Tradition schweigt. … Ganze Wälder sind aus den gebrochenen Herzen der Städte emporgewachsen, und mit wenigen Ausnahmen liegt alles in Trümmern. Aber über das, was einmal war, kann man sich durch das, was noch übrig ist, ein Bild machen.

The Theosophist, „A Land of Mystery“

Es liegt ein gewisser Pathos in dem Gedanken „der gebrochenen Herzen der Städte“, in denen einst der vitale Strom menschlichen Lebens pulsierte und sich mit der Ebbe und Flut von Hoffnungen und Ängsten, Sehnsüchten und Wünschen, Freuden und Sorgen – wie unsere eigenen – bewegte. Die Archäologie ist kein trockenes Studium, wenn wir die Fortsetzungsgeschichte menschlichen Lebens auf der Erde zu lesen beginnen. Diese ausgegrabenen Häuser, Tempel und Schlachtfelder sind die zerstreuten Kapitel der Geschichte – unsere eigene Vergangenheit.

Die menschliche Natur spielt immer dieselbe duale Rolle im Drama eines Gottes, der im Körper eines Tieres wohnt. Die gewöhnlichen archäologischen ‘Funde’ sowohl von Altären als auch von Waffen sind Symbole derselben gegensätzlichen Impulse, die uns bei unseren heutigen Formen von Gottesdienst und Konflikt bewegen. Manchmal sind es nur ein paar Scherben prähistorischen Steinguts, die inmitten alter Küchen gefunden wurden, die uns etwas von der künstlerischen Seite des Lebens eines unbekannten Volkes erzählen. So sind die Kunst und die Archäologie miteinander verbunden, um einen Beweis unseres Erbes von kreativer Schönheit zu überliefern, die uns Menschen im Blut liegt. Wie könnten sonst viele von uns, die künstlerisch nicht gebildet sind, so oft durch die in Farbe, Linie oder Laut zum Ausdruck gebrachte Harmonie begeistert werden, wenn wir so etwas nicht schon früher gekannt oder empfunden hätten? Unsere angeborenen Ideale sind oft das spirituelle Aroma von Erfahrungsperioden, an die sich das innere Selbst erinnert. Das neue Gehirn, das bei jeder Inkarnation entsteht, hat daran keine Erinnerung. Aber die überdauernde Seele erntet und speichert das Beste aus jeder Runde.

Ein Gegenstand anhaltenden Interesses ist der Ort der Wiege der Menschheit. Natürlich waren die Kontinente der ersten vier Rassen verschwunden, und neue Länder lagen bereit, als die Zeit für die evolvierenden Egos unserer fünften Wurzelrasse reif war, um ihre Zyklen zu beginnen. Die wissenschaftliche Idee, dass die Zivilisation ihren Ursprung dort nahm, wo sich heute die großen Hochebenen von Zentralasien ausbreiten, und die theologische Überlieferung vom Garten Eden beziehen sich beide auf die Heimat unserer heutigen fünften Wurzelrasse. Die alten Aufzeichnungen berichten von einer ausgedehnten Heimat in Zentralasien, mit zwei weit auseinander liegenden Perioden rassischer Geschichte. Der Keim der arischen Rasse reicht weit zurück, bis zu bestimmten, damals zu atlantischen Stämmen gehörenden Egos. Dieser erste Stamm verließ den Kontinent der mächtigen Zauberer und wanderte in aufeinander folgenden Wellen, unter spiritueller Leitung, zu den sich damals erhebenden Ländern Zentralasiens, wo heute die Wüste Gobi liegt. Dieses riesige Kontinentalsystem war damals eine Sammlung wunderschöner, fruchtbarer Länder, mit einem milden und gleichmäßigen Klima und mit kleinen und großen Inseln in den umliegenden Meeren. HPB spricht von einem Binnenmeer, das für heilig gehalten und ‘der Abgrund des Lernens’ genannt wurde (The Secret Doctrine, II: 502). Die heiligen Schriften berichten von den wunderbaren Zivilisationen, die dort entstanden und jahrhundertelang blühten.

Später, als die Zeitzyklen dahinrollten, erhob sich das Land, das Meer wich zurück, das fruchtbare Land wurde dürr und das Klima unerträglich. Das Volk wanderte wieder zu neu entstandenen Ländern und breitete sich nach Westen, Osten und Süden aus. Diese Zerstreuung der alten Kultur in neue Länder setzte sich tausende und abertausende von Jahren fort. Im Laufe der Zeit ging die Kenntnis über die frühen asiatischen Zivilisationen verloren, bis sogar ihre Geschichte legendär wurde. Die Emigranten waren jenes Volk, welches später die Chinesen, die Tartaren, die Hindus, die Assyrier, die Babylonier, die Perser, die Griechen, die Römer, die Kelten und die germanischen und skandinavischen Stämme hervorbrachte.

Der gegenwärtige Drang der Archäologen, diese im Halbdunkel liegenden Pfade der Vergangenheit zu untersuchen, stimmt mit dem neuen Zyklus des spirituellen Erwachens und mit dem Wiedergewinnen des heiligen Wissens über das erhabene Ziel überein, das in unzähligen Inkarnationen angestrebt wurde. Dr. de Purucker sagt in einem interessanten Artikel, dem wir die obigen Einzelheiten entnommen haben, Folgendes:

Ich glaube, dass unsere Archäologen und andere Wissenschaftler, wenn sie anfangen, in den vom Wind heimgesuchten Wüsten und den sandigen, unfruchtbaren Ebenen von Turkestan, Persien und Belutschistan zu graben, eines Tages Überreste finden werden, die zeigen, dass es eine Zivilisation gab, die dem, was wir jetzt kennen, zumindest ebenbürtig war, … .

Ein paar Jahrtausende vor der ältesten uns bekannten Geschichte von Griechenland, Kreta und Kleinasien existierte eine Zivilisation in jener Ebene, die heute dürre Gebiete Persiens darstellen. Was immer das alte Griechenland, Rom, Ägypten oder Babylon vorweisen konnte – es wäre beschämend gewesen gegenüber dieser Zivilisation, die sogar vornehmer und erhabener als unsere war. Das war das Mutterland der griechischen und römischen Völker und der Bewohner der griechischen Kolonien in Süditalien. …

Zentralasien ist nicht nur die Wiege der Zivilisation unserer fünften Wurzelrasse, sondern unser Mutterland. In den ersten Anfängen – als die fünfte Wurzelrasse sie selbst wurde, als ein von Atlantis getrennter Stamm – war es dieses Land, in das die ersten Kolonisten der fünften Rasse zogen, um sich dort niederzulassen. In jener Zeit begann sich dieses Land aus den Wassern emporzuheben. Von seinen hohen Ebenen und Plateaus aus versuchten die aufkommenden neuen Rassen sich im Laufe der Jahrhunderte von den dämonischen Praktiken ihrer eigenen atlantischen Vorfahren zu befreien, die nun ihrem Untergang entgegengingen. Dort wohnte die frühe fünfte Rasse, geschützt durch Karma, geschützt von der Loge. Eine Unterrasse folgte der nächsten, während sie langsam von Unwissenheit zu Wissen und von Wissen zu einem Hauch von Weisheit emporstiegen – und zu dessen Missbrauch, bis wir schließlich unser Kali-Yuga1 erreichten und damit begannen, die Rechnung zu begleichen. Wann werden die Menschen lernen, dass der einzige Weg zu Glück und Frieden, zu Wohlstand und größerem Besitz, sowohl spirituell als auch materiell, in Gehorsam gegenüber dem spirituellen und moralischen Gesetz und im Dienen liegt. … Selbstsucht besiegt ihre eigenen Ziele.

The Theosophical Forum, Juni 1937

Dieses Licht, das auf eine wunderbare Vergangenheit in Zentralasien geworfen wird, appelliert an unsere Intuition, da diese Ereignisse zu unserer eigenen Geschichte gehören. Die Durchschnittsmenschen, du und ich, waren ‘von Anfang an’ Egos dieser menschlichen Lebenswoge. Wenn wir zurückblicken, weitet sich unser mentaler Horizont bei dem Gedanken an das endlose Drehen von Rädern in Rädern während unserer vergangenen Leben aus. Die vielen Inkarnationen waren nichts anderes als kleine Zyklen entlang der großen Spirale dieser fünften Wurzelrasse, die noch in ihrer Blüte steht. Wir sehen in unserer Vorstellung diesen asiatischen Brennpunkt der Zivilisationen, der sein menschliches Licht und Leben mittels der wandernden Gruppen ausstrahlt, deren Kulturen zu den verschiedenen charakteristischen Nationen evolvierten. Es muss einst Berührungspunkte zwischen den Egos gegeben haben – und sie müssen auch heute noch existieren –, die von dort aus für ein oder für mehrere Leben getrennte Wege gingen.

Der chaotische Zustand einander durchdringender Einflüsse während des Verfalls des römischen Kaiserreichs könnte sehr wohl der karmischen Wiederholung alter Verbindungen zuzuschreiben sein. Zu jener Zeit kam einige Bewegung und Unsicherheit in die starren Formen von Religion und Gewohnheiten. Das sonderbare Gemisch von Denkweisen und Charakteren war ursprünglich indisch, druidisch, germanisch, syrisch, persisch und von noch anderer Art – alles typische nationale Ausdrucksformen der menschlichen Vernunft und der menschlichen Emotionen. Heute ist Amerika ein solcher ‘Schmelztiegel’ der Nationalitäten. Werden nicht auch hier jahrhundertealte Verbindungen erneuert – diesmal in dem Bewusstsein, dass wir aus alten Fehlern lernen und mit größerer Weisheit das allgemeine Wohlergehen mitaufbauen müssen? Besonders in der Neuen Welt ist das Leben der frühreifen Generationen bewegt, ruhelos, dynamisch, suchend – empfindsam für weitreichende Impulse, zum Guten oder zum Bösen.

Da der gegenwärtige Zustand der Welt vorhergesehen wurde, wurden Maßnahmen getroffen, um das befreiende Licht der Wahrheit so scheinen zu lassen, dass wir gemäß den Zeichen der Zeit zu verstehen beginnen, worum es in Wirklichkeit geht. Die große Weiße Loge, die Lehrer sandte, um unsere junge Rasse von dem zum Untergang verurteilten Atlantis in die asiatischen Länder zu führen, sandte H. P. Blavatsky mit dem Alten Wissen, damit wir mit dessen Hilfe einen ‘Ausweg’ aus dem Labyrinth unserer selbstsüchtigen Fehler ‘finden’. Unsere Menschheit ist ihrem unverantwortlichen Kindheitsstadium entwachsen, und sie muss diesen zyklischen Wendepunkt mit selbstbewusstem Willen und den richtigen Motiven in Angriff nehmen.

Es war ein Teil des großen Plans für Universale Bruderschaft, dass das frische Land der Neuen Welt der Geburtsort der Theosophischen Gesellschaft sein sollte. Es war kein Zufall, dass hundert Jahre zuvor dem Siegel der Vereinigten Staaten die Inschrift eingraviert wurde: Annuit coeptis. Novus ordo seclorum (Er [Gott] hat unser Unterfangen begünstigt. Die neue Ordnung der Zeitalter). Damals nahm eine neue Ordnung der Zeitalter auf ihrer großartigen Reise entlang des aufsteigenden Bogens ihren Anfang. Es war ein Teil der Arbeit, die am Ende eines jeden Jahrhunderts für die Menschheit geleistet wird und die ihren Ausgangspunkt ‘hinter den Kulissen’ hat. Auch in Europa wurden rechtzeitig Anstrengungen unternommen, um die Machthaber vor den bevorstehenden Katastrophen zu warnen. Die Boten versuchten jene Menschen, die geheime Methoden zur Erlangung von Reichtum, Macht und langem Leben anwendeten, wachzurütteln und sie darauf hinzuweisen, dass der wahre ‘Stein der Weisen’ in unserer eigenen spirituellen Natur verschlossen liegt. Aber die Warnungen und die edlen und außergewöhnlichen Werke von Cagliostro, Mesmer und Saint-Germain wurden nur von ‘den Wenigen’ verstanden.

Es ist bedeutungsvoll, dass die äußere Arbeit der Großen Loge am Ende des neunzehnten Jahrhunderts von der Theosophischen Bewegung in das 20. Jahrhundert hinüber getragen wurde. Zum ersten Mal seit dem vierzehnten Jahrhundert wurde das ‘Licht aus dem Osten’ im Westen heller und stärker. Es wird von immer mehr vorwärts strebenden Menschen erkannt. Wir finden Hinweise für die wichtigeren Kernfragen, die tief in dem sich ändernden Lauf der Dinge liegen. Zum Beispiel:

… die Okkulte Philosophie lehrt, dass sich sogar jetzt, gerade unter unseren Augen, die Entstehung einer neuen Rasse und neuer Rassen vorbereitet, deren Umwandlung in Amerika stattfinden wird und die bereits im Stillen begonnen hat.

Reine Angelsachsen vor kaum dreihundert Jahren, sind die Amerikaner der Vereinigten Staaten bereits eine Nation für sich geworden; und infolge einer starken Beimischung verschiedener Nationalitäten und von Mischehen sind sie beinahe zu einer Rasse sui generis geworden, nicht nur mental, sondern auch physisch. …

So sind die Amerikaner innerhalb von nur drei Jahrhunderten eine „ursprüngliche Rasse“ geworden, pro tem., bevor sie eine Rasse für sich und streng getrennt von allen anderen jetzt existierenden Rassen werden.

The Secret Doctrine, II: 444

Fußnoten

1. Kali-Yuga, eine der vier Rassenperioden, oft ‘Eisernes’ oder ‘Schwarzes’ Zeitalter genannt. [back]

Ein Rückblick

Um die theosophischen Lehren in Bezug auf die Zustände nach dem Tod abzurunden, sollten wir – bevor wir weitergehen – solche Ausnahmen wie Unfalltod, Todesstrafe und Selbstmord einer Betrachtung unterziehen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass sowohl vor als auch nach dem Tode dieselben Bewusstseinzustände existieren. Wir sind uns ihrer als solche jedoch nicht bewusst, weil sie sich alle miteinander vermischen und in uns wirken – mehr oder weniger wie ein einziger Zustand psychologischer Aktivität, der in Wirklichkeit natürlich zusammengesetzt ist, sich aber demjenigen, der sie zu einem einzigen Gewebe des Seins vereinigt, nicht so darstellt.

Nach dem Tod, wenn das spirituelle Selbst seiner Wege gegangen ist, zerfällt dieses Gewebe in seine Bestandteile. Das ist vergleichbar mit den chemischen Elementen, die sich zur Schaffung eines physischen Körpers mit einem gemeinsamen und eindeutigen Bewusstsein seiner selbst und seiner Funktionen miteinander verbinden, nach dem Tod jedoch ihrer eigenen Wege ziehen, wodurch das entsprechende physische Bewusstsein verschwindet. Das, was unsere psychologischen Aspekte zu einem einzigen Gewebe vereinigt, ist die Selbstheit; was das Gewebe auflöst, ist der Abschied dieser Selbstheit, des spirituellen Selbst.

Was aber geschieht, wenn ein Selbst nicht fortgeht, obwohl der physische Körper stirbt und sich auflöst?

Wenn ein Mensch geboren wird, kann seine Konstitution mit einer Uhr verglichen werden, die für eine bestimmte Zeit aufgezogen wurde. Wenn man das Uhrwerk beschädigt, wird es vorzeitig stillstehen, sonst nicht. Die Wissenschaft erkennt, dass jeder Organismus sozusagen sein Zeitlimit oder seine Lebensperiode hat. Jeder Mensch besitzt in sich ein Reservoir an Lebenskraft, aus dem er schöpfen kann, wenn er außergewöhnlichen Spannungen ausgesetzt ist, wie z. B. einer gefährlichen Krankheit oder einer Periode quälender Ungewissheit. Wir sagen dann, dass solche Erfahrungen auf Kosten unserer Lebenskraft gehen.

Dieses Reservoir an Lebenskraft ist unser vital-psychologischer Teil. Vitalität und instinktive Willenskraft erhalten uns am Leben. Nach der Theosophie entspringen diese Kräfte nicht dem physischen Körper. Selbstverständlich hängen sie während eines Erdenlebens vom Körper ab, um sich durch ihn zum Ausdruck zu bringen, aber sie haben dort nicht ihren Ursprung. Deshalb werden diese Kräfte beim Tod des Körpers nicht vernichtet, sie schwinden vielmehr erst dann, wenn ihre eigene Energie erschöpft ist, welche die Dauer ihrer Existenz bestimmt.

Deshalb ist im Falle eines vorzeitigen Todes der Körper der einzige Teil, der sich aufzulösen beginnt. Denn im natürlichen Ablauf ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen, an dem das spirituelle Selbst seine periodische, evolutionäre Anziehungskraft zu den unsichtbaren Welten verspürt. Die menschlichen Anziehungskräfte, die sein Selbst an das Leben auf der Erde banden, sind noch lange nicht erschöpft. Das Pendel der irdischen Erfahrungen hat seine festgelegte Bahn noch nicht zurückgelegt.

Was ist also geschehen? Eine vollständige menschliche Wesenheit, nur ohne physischen Körper, bleibt in Kāma-Loka zurück, um anstelle der gewohnten Existenz auf der Erde ihre angemessene Lebensperiode in dieser Sphäre zu verbringen.

Man spricht zwar von einem ‘Unfalltod’. Aber in Wirklichkeit gibt es so etwas wie einen Unfall nicht. Es mag uns so erscheinen, weil wir die inneren Ursachen nicht erkennen, die zu diesem Ereignis führten. Aber das Universum wird von moralischer Gerechtigkeit regiert. Kein Mensch ist zum ersten Mal hier auf der Erde. Jeder hat schon viele andere Leben auf diesem Globus verbracht; und es waren unsere Gedanken und Handlungen in diesen früheren Leben, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. Wenn ein Mensch von einem zu schnell fahrenden Auto überfahren wird oder von einem Felsen stürzt, geschieht das, weil er selbst in diesem oder in einem früheren Leben eine Kette von Ursachen geschaffen hat, die zu diesem Unglück führten. In ihm selbst liegen die Ursachen, die ihn an den Ort oder in die Umstände führten, wo der ‘Unfall’ geschah. So ist dieser Unfalltod in Wirklichkeit ein Teil seines Karmas, eine Folge früherer Handlungen, die er selbst beging. Trotzdem hat sein Karma ihn vorzeitig von seiner irdischen Existenz getrennt. Dieser sogenannte ‘Unfall’ ist ein Teil des ungünstigen Karmas, das er durch frühere Fehler selbst geschaffen hat.

Was geschieht nun im Falle eines sogenannten Unfalltodes? Das wird natürlich von dem Menschen selbst abhängen. Wenn sein Leben von unedlen Wunsch-Elementen erfüllt war, aus denen die niederen Schichten von Kāma-Loka bestehen, wird er zu diesen niederen Elementen gravitieren. Und genau die Identität seines Bewusstseins mit ihnen wird ihn dort am Leben erhalten. Genau in dem Maß, in dem er selbstsüchtig war oder seine animalischen Neigungen kultiviert hat, wird er in dieser niederen mentalen Sphäre, die der physischen Existenz so nahe steht, äußerst lebendig bleiben. Er wird jedoch lediglich das Verlangen seiner Begierden verspüren – er wird keinen Körper haben, um sie zu stillen. Von dem, was gute Menschen richtigerweise als die Hölle seiner Selbstsucht auf der Erde bezeichnen würden, geht er mit dem Tod in eine wahrhaftige Hölle mentaler Tortur in Kāma-Loka über.

Wenn wir an Kriminelle in allen Ländern denken, deren Leben durch die Todesstrafe ein plötzliches Ende gesetzt wird, können wir erkennen, welch mächtige Kraft des Bösen wir mit einer solchen Tat in die Gedankenatmosphäre der Menschheit freisetzen. Diese entkörperten, aber noch immer lebendigen Menschen beleben in der mentalen Sphäre der Menschheit sowohl Gedanken des Hasses und der Rachsucht als auch unedle Wünsche und Neigungen. Solche Bedingungen in der Gedankenatmosphäre der Welt müssen den spirituellen Fortschritt all jener hemmen, die Sympathie mit ihnen empfinden. Ist es da verwunderlich, dass die meisten Sozialreformen offensichtlich auf zunehmende Schwierigkeiten stoßen? Und ist es nicht bezeichnend, dass eine Abnahme der Kriminalität in den Ländern zu beobachten ist, welche die Todesstrafe abgeschafft haben?

Aber es gibt natürlich auch die schönere Seite des Bildes. Glücklicherweise sind die durchschnittlichen Menschen von dem vorher Beschriebenen sehr verschieden. Wenn ein Mensch, dessen Leben von Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft geprägt war, durch einen Unfall ums Leben kommt, wird er in seiner psychologischen Natur wenig mit dem niederen Kāma-Loka gemein haben. Es wird daher nichts geben, was ihn sozusagen in diesen niederen Sphären am Leben erhält. Er wird in einen längeren Schlummerzustand fallen – in denselben Zustand, den er im Fall eines normalen Todes in kürzerer Form durchlaufen würde. Sein ganzes Leben lebte er – wenn auch unbewusst – einigermaßen in Harmonie mit seinem spirituellen Selbst; und als natürliche Reaktion kann ihn dieses Selbst schützen und in seinen eigenen göttlichen, auf ihn wartenden Frieden aufnehmen. Und so wird er schlafen, bis der Moment gekommen ist, in dem sein spirituelles Selbst den Ruf hört oder den Drang verspürt, die Reise in sein eigenes inneres Reich anzutreten.

Dann beginnt auch der psychologische Auflösungsprozess, der ‘zweite Tod’. Jener Teil der psychologischen Natur, der in den höheren Regionen von Kāma-Loka ruht, wird von dem reinkarnierenden Ego absorbiert. Die niederen Teile zerfallen in ihre Bestandteile.

Die beiden vorherigen Beispiele sind als typische Fälle angegeben. Verschiedene Aspekte des allgemeinen Zustands wurden von Dr. de Purucker einmal folgendermaßen beschrieben:

Für jeden Mann und für jede Frau auf dieser Erde gibt es Kāma-Loka. Aber es gibt so viele unterschiedliche Arten von Existenzen in Kāma-Loka als es Existenzen auf der Erde gibt; und der Durchschnittsmann oder die Durchschnittsfrau durchläuft Kāma-Loka beinahe ohne es wahrzunehmen. Ein sehr schlechter, sehr böser Mensch – Mann oder Frau – dagegen nimmt seinen Aufenthalt in Kāma-Loka sehr genau wahr; und es gibt Fälle, in denen das Leiden einfach schrecklich ist. Aber es ist mentales Leiden … . Sehr gute Männer oder Frauen gehen durch Kāma-Loka und bemerken es nicht. Diese Unbewusstheit, das uns die mitleidsvolle Natur im Augenblick des Todes bringt, dauert ohne Unterbrechung fort; sie besteht ohne Pause fort, bis Devachan [die Himmelswelt] mit seiner rosafarbenen Schönheit betreten wird. …

Die körperlose Wesenheit, die der verstorbene Mensch ist, verbleibt gerade so lange in Kāma-Loka, wie es seinen karmischen Verdiensten entspricht – und keinen Augenblick länger.

The Theosophical Forum, Feb. 1933, S. 176

Und im Fall eines Unfalltods:

… wenn die dem normalen Tod des physischen Körpers entsprechende Zeit erreicht ist, gibt es ein Erwachen in Kāma-Loka und der einfache Prozess der Befreiung von Kāma-Loka, den alle Menschen durchlaufen, wird begonnen. … Kāma-Loka ist nicht schrecklich, außer für jene, die wirklich böse sind. Auch auf unserer physischen Erde gibt es schreckliche Orte, schrecklich für die Menschen, die böse sind und gefangen werden.

– Ebenda

Selbstmord ist die unglücklichste aller Arten von gewaltsamem Tod. Das kommt daher, weil es bedeutet

… sich absichtlich das Leben zu nehmen, um den Konsequenzen dessen zu entfliehen, was man verdient hat; und wenn irgendjemand denkt, dass er die Natur auf diese Art betrügen kann, irrt er vollkommen. Er fügt der schweren Last, die er in der Zukunft zu tragen hat, nur noch weitere hinzu. … Er fordert die Natur sozusagen absichtlich heraus. Er setzt in voller Absicht seine eigene Willenskraft und sein Bewusstsein auf widernatürliche Art für eine unheilige Sache ein und begeht eine Tat, welche die Natur durch ihre nie irrenden Gesetze nicht aus sich selbst heraus hervorgebringt; und wenn man ein Naturgesetz bricht – was geschieht dann?

– G. DE PURUCKER, Questions We All Ask, Serie I, Nr. 6

Die Antwort kann leicht gegeben werden:

Das Schicksal eines Selbstmörders ist traurig, wirklich schrecklich, und es ist gut und richtig, dass die Wahrheit über Selbstmord gesagt wird. Selbstmord schneidet das Leben ab, das die Natur, wie es in der Theosophie heißt, länger plante; und er hat sich in einen post-mortem Zustand versetzt, in dem er leben und sehr leiden muss, bis das Ende seiner Lebenszeit – hätte er auf Erden gelebt – gekommen ist. Das Schicksal eines Selbstmörders ist schrecklich.

– Ebenda, Serie II, Nr. 19

Der springende Punkt liegt darin, dass Selbstmord willentlich das Leben beendet, das gemäß Karma länger hätte dauern sollen. Bei anderen Formen des gewaltsamem Todes wie Unfall, Verbrechen oder Todesstrafe handelt es sich um ein karmisches Geschehen. Mit dem Erleiden eines solchen Unglücks zahlt der Mensch seinen ‘karmischen Preis’. Indem er die Folgen seiner eigenen Taten aus der Vergangenheit erleidet, macht er sozusagen reinen Tisch in Bezug auf diese besondere Schuld.

Aber der Selbstmörder, der durch seine Tat den Konsequenzen seiner Fehler im Leben entgehen will und der – was oft geschieht – die Bürde anderen überlässt, hat für sich selbst eine neue Ursache für Leid in Bewegung gesetzt. In seinem nächsten Leben wird er denselben Bedingungen die Stirn bieten müssen, welche in diesem zu seinem Selbstmord geführt haben, nur in einer Form, die gerade durch die Energie seiner Weigerung, ihnen jetzt zu begegnen, intensiviert wird. Jede unserer Handlungen ist aus Energie gemacht, und mit jeder Intensivierung der Energie vertiefen sich die Konsequenzen. So wird der spätere Zustand eines Selbstmörders wahrhaftig schlimmer sein als zuvor.

Der post-mortem Zustand eines Menschen, der sich das Leben nimmt, besteht darin, dass er den Schrecken seiner Tat und die mentale Qual, die dazu führte, wieder und wieder erlebt. Selbstmörder und exekutierte Kriminelle müssen in den meisten Fällen zu mächtigen Strudeln kranker Gedankenenergien werden, die ihre Kraft den bestehenden Hindernissen für den spirituellen Fortschritt der Welt hinzufügen.

Es ist jedenfalls gut sich zu erinnern, dass diese bedauernswerten Fälle, die wir besprochen haben, nur einen ganz kleinen Teil der großen Masse von Menschen bilden. Der bei weitem größte Teil von Unfalltoden betrifft Menschen, die ein gutes und normales Leben führten, und ihre post-mortem Zustände können nur friedlich sein. Reinkarnation bietet jedem Einzelnen Leben um Leben eine neue Chance und führt den Menschen am Ende zu seiner eigenen Erlösung.

Wir können dieses Kapitel ganz passend mit folgenden Worten von Dr. de Purucker beenden:

Jedes Mal, wenn wir intensiv leiden, ich meine mentales Leiden – wenn es etwas Besonderes ist, das die Elemente eines Gewissenskonfliktes oder intensiver Reue beinhaltet –, dann handelt es sich dabei um Kāma-Loka. Man befindet sich dann in Kāma-Loka, selbst wenn man im physischen Körper lebt. Beachten wir die Lehre, die daraus gezogen werden kann. Man erkennt, warum H. P. Blavatsky so darauf bedacht war, dass die Lehre über Kāma-Loka und Devachan unter den Menschen als eine Warnung, wenn auch nur als Warnung, verbreitet werden sollte. Führen wir ein anständiges Leben, ein anständiges Leben als Mann oder Frau, und wir brauchen uns über Kāma-Loka nicht den Kopf zu zerbrechen. Man muss nicht einmal darüber nachdenken, denn man wird davon nichts wissen. Man wird lediglich wie ein Meteor hindurchgehen, aber sozusagen aufwärts.

– G. DE PURUCKER, The Theosophical Forum, Feb. 1933, S. 177

Vererbung und Evolution

Die wissenschaftliche Erforschung der Evolution ist mit dem Studium der Vererbung und der Zellstruktur verwoben. Ersteres bezieht sich auf Tatsachen der Vererbung, wie sie durch statistische Untersuchungen an Menschen und bei der experimentellen Zucht von Tieren und Pflanzen festgestellt wurden. Die Zellbiologie beinhaltet das Studium von Zellen und ihrer Entwicklung. Eine vollständige Besprechung dieser Themen würde viele Bände erfordern; deshalb können wir hier nur eine Zusammenfassung der Hauptpunkte geben.

Im Lauf der Geschichte folgte eine Theorie der anderen, was an sich schon ein Ausdruck von Evolution ist, weil das ein Bild des Wachstums neuer Ideen unter dem sich ändernden Einfluss neuer Tatsachen ergibt. Frühere Theorien, die auf noch unvollständigeren Kenntnissen basierten, veränderten sich allmählich – und zwar mit den neu hinzugekommenen Erkenntnissen. Ein bekanntes Phänomen bei den meisten Untersuchungen ist, dass neue Fakten – anstatt alte Theorien zu festigen und dadurch die Untersuchungen zu vereinfachen – neue Perspektiven eröffnen. Dadurch wird das Problem immer komplexer. Die bedeutsamsten Fragen, nach deren Lösung gesucht wird, sind:

(1) Welchen Einfluss haben diese Untersuchungen auf die Evolutionstheorien? Unterstützen sie diese oder stehen sie dazu im Widerspruch? Man kann die allgemeine Antwort wohl erraten: Die Untersuchungen machen Anpassungen der Theorien notwendig, trotzdem wird oft mit aller Macht an den alten Theorien festgehalten.

(2) Neigt die Vererbung dazu, Arten beizubehalten oder treten neue Arten auf ? Allgemein kann hierzu gesagt werden, dass beide Phänomene nebeneinander existieren: Bestimmte Faktoren neigen dazu, erbliche Merkmale von Generation zu Generation weiterzugeben, und andere bringen Mutationen hervor.

(3) Ist es möglich, dass der erworbene Charakter an die Nachkommen weitergegeben werden kann? Diese Frage ist mit der nächsten eng verbunden.

(4) Sind Variationen bei der Vererbung dem erworbenen Charakter zuzuschreiben oder entstehen sie in den Mikroorganismen auf eine andere Weise ?

Wir wollen noch einmal bei den früheren Vorstellungen von der Evolution innehalten und der Frage nachgehen, welche Auswirkungen spätere Untersuchungen auf sie hatten. Es wurde die Meinung vertreten, dass neue Arten durch allmähliche, geringfügige Mutationen aus den alten Arten hervorgingen. Die neuen Arten gaben dann durch Vererbung ihre Merkmale weiter. Dieser sich über lange Zeitalter erstreckende Prozess resultierte in einer langsam fortschreitenden Evolution – von den einfachsten bis zu den kompliziertesten Formen. Dies erwies sich als eine zu simple und grobe Theorie. In diesem Zusammenhang kann man das Werk von Bateson als historisch wichtig betrachten. Er war Vorsitzender der Jahresversammlung der British Association for the Advancement of Science im Jahr 1914 in Toronto. Dort hielt er eine bemerkenswerte Ansprache, aus der hier einige Zitate folgen. Er unterschied zwischen einem Verbindungsglied und einer Kreuzung. Als Beispiel führte er zwei verwandte Pflanzensorten an: Melandrium rubrum (Tages-Kuckucksblume) und Melandrium Album (Abend-Kuckucksblume), die gleichzeitig vorkommen – zusammen mit weiteren Pflanzen, die eine Anzahl von zwischen den beiden liegenden Kreuzungen darstellen. Gewöhnlich werden diese als Zwischenstadien betrachtet, in Wirklichkeit aber sind sie nichts anderes als Kreuzungen zwischen den beiden Sorten. Bateson sagt:

Die Kenntnis der Vererbung beeinflusste unsere Ansichten über die Variationen derartig, dass einige sehr kompetente Personen sogar bestreiten, dass es Varianten in der früheren Bedeutung überhaupt gibt. Varianten werden als die Basis aller evolutionären Veränderungen betrachtet. Finden wir tatsächlich in der Welt um uns derartige Varianten, die den Glauben an eine gleichförmig fortschreitende Evolution rechtfertigen? Bis vor kurzem würden die meisten Menschen diese Frage zweifellos mit ‘Ja’ beantwortet haben.

Varianten werden dort angetroffen, wo sich eine Artenvielfalt derselben Art ungehindert kreuzen kann. Diese Spielarten besitzen jedoch mehr oder weniger die Charakteristika des ursprünglichen Typus, von dem sie alle abstammen. Dasselbe Ergebnis wird auch beim experimentellen Züchten erreicht. Worauf es ankommt ist, dass die Spielarten nicht durch das Hinzufügen neuer Merkmale entstehen, sondern durch den Verlust bestimmter Merkmale, die in ihrer Gesamtheit in der Elternpflanze vorhanden waren. Bateson weist auch auf die vielen Haushühnerrassen hin, die alle vom ursprünglichen ‘Gallus Ferrugineus’ abstammen. Diese zahmen Hühner sind keine Übergangsformen zwischen der einen und der anderen Rasse – wie die anfängliche Theorie lautete –, sondern sie sind Produkte des ursprünglichen wilden Huhns. Sie besitzen alle eine Anzahl von Faktoren, die in diesem ursprünglichen Tier vorhanden waren – und zwar in unterschiedlichem Ausmaß. Mit anderen Worten, die zahmen Rassen sind Seitenzweige des ursprünglichen Typus.

Der Name von Hugo de Vries ist mit der Mutations-Theorie verbunden. Seine Experimente bezüglich Vererbung bei Pflanzen brachten ihn zu der Schlussfolgerung, dass Veränderungen viel plötzlicher auftreten können, als vorher angenommen wurde. Die früheren Anhänger der Evolutionslehre meinten, dass Veränderungen nur schrittweise auftreten und sich summieren. Aber er entdeckte, dass aus Sämlingen derselben Pflanze einzelne Pflanzen hervorgingen, die sich nicht nur in geringem Maße, sondern manchmal auch gravierend voneinander unterschieden. In einzelnen Fällen konnte der Unterschied so auffallend sein, dass eine der Pflanzen mit Recht als eine vollständig neue Art betrachtet werden konnte. Solch eine plötzlich auftretende Varietät bezeichnet De Vries als eine Mutation.

Wir beschäftigen uns nun mit der Keimplasma-Theorie von Weismann. Die grundlegenden Vorstellungen dieser Theorie haben noch immer Gültigkeit, obschon spätere Untersuchungen der Zelle den Biologen eine andere Sicht bezüglich mancher Einzelheiten boten. Er war der Ansicht, dass in vielzelligen Organismen bestimmte, bei der Ernährung und anderen vitalen Funktionen eine Rolle spielende Zellen, die Struktur und Substanz des Körpers als individuelle Zellen aufbauen und dass sie auch als individuelle Zellen sterben. Andere Zellen wiederum sterben nicht in dieser Weise, sondern vermehren sich durch Teilung, wie im Fall einzelliger Organismen; sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. Dies würde erklären, wie die Eigenschaften der Ureltern über Generationen hinweg aufrechterhalten werden und warum bei Züchtungen der Typus erhalten bleibt. Das lässt die Frage offen, ob diese weitervererbten Zellen durch die Umwelt beinflusst werden oder nicht; oder ob die Ursachen für eventuelle Veränderungen, denen sie unterworfen sind, in der Zelle selbst liegen. Durch ein weitergehendes Studium der Zelle mit Hilfe von Rasterelektronen-Mikroskopen sind eine Anzahl genetischer Faktoren erkannt worden. Für unseren Zweck ist jedoch die Feststellung ausreichend, dass einzelne Zellen mit dem Aufbau und der Ernährung des Körpers in Verbindung stehen und andere der Vererbung dienen.

Später stellte Professor Bateson fest, dass wir bei der Beobachtung der wunderbaren Wirkungsweisen der Zelle und der sie zusammensetzenden Teile Beobachtern eines Schöpfungsaktes gleichkämen. Andere behaupteten mit Bezug auf das Erscheinen der Elemente, es gäbe nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, wie diese sich verhalten würden. Die polare Struktur der Zelle, die in bestimmten Stadien wahrnehmbar ist, und die ausstrahlenden Linien, die den Kraftlinien eines Magneten ähnlich sind, deuten stark auf ein zielgerichtetes Handeln hin. In dieser Weise werden die Wissenschaftler durch die Tatsachen gezwungen, sich immer mehr der unvermeidlichen Wahrheit zu nähern, dass ein Mechanismus allein nichts erklärt, Leben und lebendige Wesen jedoch das Ganze bestimmen.

Diese Untersuchungen auf dem Gebiet der Vererbung und der Zellen zeigen uns, dass Veränderungen im Typus sich verhältnismäßig selten und plötzlich ergeben; und dass, gemäß der allgemeinen Regel, jeder Typus seine eigene Art hervorbringt und zeitlichen Veränderungen unterworfen ist, die eine Folge der Kreuzung und der Umwelt darstellen. Das stimmt mit dem Vorhergesagten bezüglich der verschiedenen Arten organischer Wesen überein, die ursprünglich aus Samen hervorgingen, die in einem sehr frühen Stadium ihrer Evolution vom menschlichen Stamm abgeworfenen wurden. Jeder dieser so abgeworfenen Samen verfolgte dann seine eigene unabhängige Evolution – in Übereinstimmung mit seinem speziellen Typus. Aber in jedem dieser evolvierenden Organismen verbirgt sich eine ‘Monade’, bzw. eine Tier- oder Pflanzenseele. Inzwischen entwickelt sie sich und sammelt Erfahrungen durch ihre Berührung mit der Außenwelt. Dadurch erwirbt sie neue Fähigkeiten; diese bleiben jedoch latent und kommen nicht zum Ausdruck, bis die Zeit gekommen ist, wo die äußeren Umstände es gestatten. Und dann tritt eine dieser ‘Mutationen’ oder plötzlichen Veränderungen auf. Das ist die unsichtbare Ursache, die diese Mutationen auslöst. Deshalb ist es leicht einzusehen, weshalb in bestimmten Perioden, wenn die Bedingungen auf der Erde es erlauben, bestimmte Arten sich zu monströsen und riesigen Formen entwickeln, die es heute nicht mehr gibt. Eidechsen verschiedener Form und Größe gibt es den Umständen entsprechend immer noch, die Dinosaurier des Jurazeitalters sind jedoch ausgestorben.

Vererbung geht üblicherweise als ein Prozess vor sich, durch den körperliche und psychische Eigenschaften und Neigungen der Eltern oder Ahnen auf die Nachkommen weitergegeben werden. Das bedeutet im Falle des Menschen, dass das zur Welt kommende Kind diese Eigenschaften und Merkmale erhält, ohne selbst irgendeinen Einfluss darauf ausüben zu können. Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren bei der Lösung der Frage, auf welche Weise sich diese Übertragung vollzieht, große Fortschritte gemacht. Eingehende Untersuchungen der Zellstruktur haben zu der Entdeckung der Chromosomen, der Gene und DNS geführt, worin die Träger der Erbfaktoren gesucht werden müssen. Wenn wir auch die Genialität, mit der Gelehrte sich in der ganzen Welt mit diesem Studium beschäftigen, und ihre wichtigen Entdeckungen sehr bewundern – das Rätsel des Lebens und dessen wesentlicher Ursprung bleiben weit von einer Lösung entfernt.

Es ist verständlich und nichtsdestoweniger notwendig, an dieser Stelle anzumerken, dass die Wissenschaft sich bei ihrer Untersuchung mit den materiellen Aspekten der lebendigen Natur beschäftigt und es in den meisten Fällen ablehnt, dass der wahre Mensch ein spirituelles Wesen ist, das nicht bei seiner Geburt als ein neues Produkt entsteht, sondern eine sehr lange Vorgeschichte besitzt. Seine Anwesenheit auf der Erde in diesem Leben ist nur eine Phase seiner langen Pilgerfahrt. Vor dieser Existenz hat er als Mensch bereits viele Male auf der Erde gelebt, hat Erfahrungen gesammelt und an seinem Charakter gearbeitet. In diesem Leben erscheint er deshalb nicht als ein unbeschriebenes Blatt, er bringt vielmehr seinen eigenen Charakter mit, der das vorläufige Ergebnis seiner langen Vorexistenz ist. Auch wenn es richtig ist, dass bestimmte Eigenschaften und Neigungen, die er zeigt, ‘erblich’ sind – also von Eltern oder Ahnen auf ihn übertragen wurden –, sind diese Faktoren streng genommen nicht ursächlich. Das neue Wesen, das seinen eigenen Charakter mitbringt, ‘sucht’ entlang der dafür bestimmten Kanäle jenes Elternpaar, das ihm die Möglichkeiten bietet, im Anschluss an das bisher erreichte Stadium an seiner Evolution weiterzuarbeiten. Die Eltern verschaffen ihm die Umwelt, die Umstände und den materiellen Körper, den er benötigt. Jeder Mensch erbt deshalb sich selbst – seinen eigenen Charakter; und wenn uns diese ‘Erbschaft’ nicht gefällt, gibt es außer uns selbst nichts und niemanden, dem wir das vorwerfen könnten. Was wir in diesem Leben täglich tun, welche ‘Schätze’ wir für uns sammeln, wird bestimmen, was in der Zukunft unser Erbe sein wird. Dies alles ändert nichts an den Ergebnissen und der Bedeutung der fesselnden wissenschaftlichen Forschung. In Wirklichkeit wird noch ein Element hinzugefügt – nämlich der spirituelle Hintergrund, nicht nur des Menschen, sondern auch der Pflanzen und Tiere, in Wirklichkeit des gesamten geoffenbarten Universums in seiner Ehrfurcht einflößenden Verschiedenartigkeit der Formen.

Eine neue Psychologie auf der Grundlage einer sehr alten Lehre

Der Wert einer jeden Idee zeigt sich in ihrer praktischen Anwendbarkeit bei Schwierigkeiten im menschlichen Leben. Kann sie uns helfen, den Charakter zu entwickeln und zu stärken? Liefert sie einen Beitrag zu befriedigenderen menschlichen Verhältnissen, indem sie das Verständnis für unseren Mitmenschen erweitert und es dadurch ermöglicht, ihm zu helfen? Ermöglicht sie es uns, eine Situation besser zu beherrschen und unser Schicksal zu lenken? Für eine gesunde und brauchbare Psychologie ist das Wissen von und die Einsicht in die zusammengesetzte Natur eines Menschen die erste Voraussetzung.

Die Psychologie ist eine der populärsten Themen unserer Zeit. Nicht nur für Fachleute, sondern auch für die Gesellschaft im Allgemeinen ist es offensichtlich, wie groß ihre Bedeutung und ihr Einfluss in der Praxis des täglichen Lebens ist. Ausdrücke wie ‘Verkaufspsychologie’, ‘Massenpsychologie’ usw. sind klare Hinweise darauf, welche Bedeutung den Kenntnissen von den Grundprinzipien der menschlichen Natur zugemessen wird, um auf einem bestimmten Gebiet Erfolge zu erzielen. Der Gebrauch von kommerziellen und politischen Wahlparolen vielerlei Art, mit der Absicht, damit einen Kunden- oder Konsumentenkreis zu schaffen, kann hier als Beispiel dienen.

Würde ein Mensch sich nur einen Tag lang gut beobachten, dann würde er über die Vielfalt von Stimmungen, Trieben und Charakterneigungen staunen, die in all seinen Gedanken und Handlungen ans Licht kommen. Und es würde ihn gleichfalls wundern, dass er so furchtbar wenig von dem weiß, was in seinem Innersten vorgeht. Er würde sich bewusst werden, dass er fast ganz und gar der Willkür des sich fortwährend ändernden Bewusstseinsstroms ausgeliefert ist, auf dem er sich in mehr oder weniger heikler Weise treiben lässt – heikel, weil er in Unkenntnis über die Ursache oder die Bedeutung dieser Widersprüchlichkeiten in ihm selbst ist.

Dass wir zusammengesetzte Wesen sind, wird aus der beinahe vollständigen Diskontinuität der menschlichen Natur ersichtlich. Damit ist gemeint, dass der Durchschnittsmensch nicht imstande ist, über einen längeren Zeitraum eine Linie des Denkens, Fühlens und Wollens anhaltend zu verfolgen. Das deutet darauf hin, dass in seiner Konstitution mehrere widersprüchliche Elemente vorhanden sind. Diese Elemente hindern ihn daran, denselben Gedankengang oder die gleiche Gemütsverfassung über einen längeren Zeitraum beizubehalten. Es ist also verständlich, dass, wenn wir diese widersprüchlichen Elemente nicht kontrollieren können – sie nicht miteinander in Harmonie zu bringen und nicht zu lenken lernen – sie in unserem Leben immer eine wilde und ungestüme Rolle spielen werden. Aber müssen wir, um sie bezwingen zu können, nicht erst wissen, welcher Art sie sind und woher sie kommen?

Wie können wir Einblick in unsere psychische Natur gewinnen und den wirkenden Kräften Richtung geben? Hier, in dieser zweifältigen Persönlichkeit, wird der Kampf um die Evolution des menschlichen Wesens zu etwas Höherem ausgetragen. Es ist der Kampf zwischen dem Persönlichen und dem Göttlichen. Er wogt hin und her, und einmal wird die Persönlichkeit durch ihre Verbundenheit mit Kāma herabgezogen, aber dann wieder durch ihre Vereinigung mit dem höheren Manas angehoben und geläutert.

H. P. Blavatsky liefert in The Key to Theosophy [Der Schlüssel zur Theosophie] eine sehr klare und vollständige Analyse dieser dualistischen Psychologie der menschlichen Natur. Sie spricht von den Strahlen des göttlichen Denkens, die, wenn sie begrenzt werden oder inkarniert sind, als individualisierte Wesenheiten duale Eigenschaften annehmen, und zwar:

(a) … die ihnen innewohnende, essentielle Charakteristik des nach dem Himmlischen strebenden Denkvermögens (dem höheren Manas), und b) die menschliche Eigenschaft des Denkens oder des von der Vernunft beherrschten tierhaften Überlegens mit der Überlegenheit des menschlichen Gehirns, das zu Kāma tendierende niedere Manas.

– S. 184

Wir müssen diese beiden Elemente anhand des täglichen Lebens in uns selbst kennenlernen. Wir müssen lernen, wie wir die beiden durch ihre Tätigkeit in der Praxis voneinander unterscheiden und das höhere Manas in uns entwickeln können und in welcher Weise wir seinen niederen kāma-manasischen Aspekt in ein Instrument oder Vehikel umwandeln können, das vom höheren Manas benutzt werden kann. Solange wir diese Kenntnis nicht besitzen und nicht selbstbewusst anwenden können, sind wir nicht nur der Willkür unserer Gemütsverfassungen und Schwächen ausgeliefert, sondern wir werden auch auf die Stimmungen und Schwächen anderer Leute falsch reagieren.

Selbstbewusstsein bedeutet Selbsterkenntnis. Manas als der Denker hat die Fähigkeit, sich seiner selbst als eines einzelnen individuellen Wesens bewusst zu sein, das sich durch Charakter und Eigenschaften von allen anderen Wesen unterscheidet. Daraus folgt wiederum, dass wir uns unserer Beziehung zu unserer Umgebung und zu den anderen bewusst sind – was uns die anderen bedeuten und wie wir reagieren sollten.

Mit dem Selbstbewusstsein taucht zum ersten Mal der freie Wille des Menschen auf. Durch das Erkennen seiner selbst wird er sich seiner Fähigkeit bewusst, sich entwickeln zu können und seine Umstände und Beziehungen zu nutzen, um seine eigenen Wünsche und Ziele zu verwirklichen. Hier, in diesem Bereich des Selbstbewusstseins, vollzieht sich der Kampf der Dualität unserer Natur. Wenn wir das einmal erkannt haben, können wir unseren Willen entweder für die egoistischen, persönlichen Zwecke unserer niederen Natur nutzen, oder ihn dem schweigenden, aber niemals verstummenden Ruf unseres höheren Manas unterordnen. Der Kampf der menschlichen Evolution konzentriert sich auf diesen Punkt.

In dem Maße, in dem der Mensch vorwärtsschreitet, lernt er, seine niedere kāmische Natur zu beherrschen und sie in den Dienst des höheren Manas zu stellen. Sollte ihm das nicht gelingen, bedeutet dies einen Rückschritt. Wenn er seinen selbstbewussten freien Willen dazu benutzt, andere zu schädigen oder lediglich sich selbst zu begünstigen, dann schafft er Karma, das Leiden und Misserfolg mit sich bringt. Dennoch bieten ihm gerade diese Leiden und diese Misserfolge die Chance, zu lernen und sich allmählich zu entwickeln. Schließlich erlangt die Persönlichkeit nach vielen Leben die Erkenntnis, dass sie nur Frieden und Glück erwerben kann, indem sie sich mit dem höheren Manas verbindet.

Erst wenn wir diesen Punkt erreichen, lernen wir wahre Freiheit kennen. Das Wissen um die von der Theosophie gelehrte spirituelle Psychologie bringt uns zu der Überzeugung, dass der Wille erst wirklich frei sein wird, wenn er dem Wohlergehen anderer untergeordnet wird. Ein Mensch, dessen Handlungen aus egoistischen, animalischen Instinkten resultieren, ist ausschließlich auf sich selbst fixiert. Er leidet, weil er sich der Furcht, dem Neid und mancherlei Formen der persönlichen Frustrationen aussetzt – und sich dabei lediglich einbildet, frei zu sein.

In dem Maße, wie wir unseren freien Willen bewusst ausüben und auf das Wohlbefinden anderer richten, erfahren wir eine Erweiterung unseres Horizontes. Denn diese Geisteshaltung bedeutet, dass wir die Persönlichkeit auf das Licht und die Kraft des höheren Manas richten, wodurch wir unsere ganze niedere Natur dem Göttlichen unterstellen. Der Grund dafür liegt in der Natur von Buddhi und Ātman. Wie bereits erklärt, ist Ātman der Strahl des kosmischen Universalen Selbstes, das im tiefsten Innern eines jeden von uns wohnt. Es ist in uns allen identisch und deshalb die Grundlage der Universalen Bruderschaft. Ātman ist reines, göttliches Bewusstsein, das eins ist mit der universalen Quelle, aus der es entspringt.

Buddhi ist das göttliche Vehikel des Universalen Bewusstseins. Es ist eine Emanation von Ātman und deshalb besitzt Buddhi etwas von der universalen Natur Ātmans. In dem buddhischen Prinzip liegen alle Universalkräfte Ātmans eingeschlossen – unpersönliche Liebe für alle Geschöpfe, Genialität in ihrer höchsten und göttlichsten Form und Intelligenz in ihrer glänzendsten und abstraktesten Kraft.

Wenn wir darüber nachdenken, verstehen wir, dass – wenn jemand sich stärker dem höheren Manas zuwendet und auf seine Gebote der Liebe, des Erbarmens und der Hingabe zum Universalen und Wirklichen hört – er sich selbst unter den Einfluss der beseelenden Kraft des buddhischen Glanzes stellt. Diese buddhische Herrlichkeit strahlt wie eine göttliche Gegenwärtigkeit über die Natur und Tätigkeiten des höheren Manas aus. Dieses Licht ist immer anwesend. Unsere Persönlichkeit ist jedoch so oft von einem dichten Nebel der Selbstsucht und kleinlichen Eigeninteressen verdunkelt, dass die reinen Strahlen dieses buddhischen Glanzes nicht bis in das Bewusstsein vordringen können.

Aber wenn diese Nebel durch freiwillige Selbstdisziplin vertrieben werden, kann Manas sich ungehindert Buddhi zuwenden. Es wird nicht länger völlig von dem Versuch in Anspruch genommen, die ablenkenden Kämpfe von Kāma-Manas zu kontrollieren. Wenn dieser glückliche Moment gekommen ist, wird die buddhische Kraft der unpersönlichen Liebe – die Anregung des göttlichen und schaffenden Intellekts – den ganzen niederen Menschen beseelen. Unvermutete Fähigkeiten und Kräfte werden in der bislang beschränkten Persönlichkeit zur Entfaltung kommen. Fast täglich werden Friede und Glück zunehmen, ebenso wie die Fähigkeit, den Mitmenschen zu helfen und eine Stütze zu sein. Das ist der Grund, weshalb Rechtschaffenheit und Selbstlosigkeit sich buchstäblich und wahrhaftig selbst belohnen. Aus demselben Grund kann die Ausübung von Bruderschaft und die spirituelle Disziplinierung des menschlichen Willens zu einer großartigen Erweiterung des Bewusstseins führen. Die Menschen, die in dem erhabenen Licht des buddhischen Glanzes leben, sind auf dem Wege, zu Göttern in Menschengestalt zu werden. Vergleicht man dieses System der wahren spirituellen Psychologie mit anderen Systemen, dann zeigt sich schnell, wieviel tiefer der Einblick ist, den wir durch die spirituelle Psychologie von uns selbst bekommen können und wieviel mehr Licht sie auf die uns umgebende komplizierte Welt der Menschen wirft.

Der nächste Abschnitt, den wir den Fundamentals of the Esoteric Philosophy (S. 151) von G. de Purucker entnehmen, kann in diesem Zusammenhang aufschlussreich sein. Er sagt, dass das Wort Psychologie

… in unserer Zeit und in den Kreisen der westlichen Wissenschaft gewöhnlich benutzt wird, um ein mehr oder weniger dunkles, zum größten Teil von Zweifeln und Hypothesen getrübtes Studium anzudeuten, das auf Annahmen beruht, die wenig mehr sind als eine Art mentaler Physiologie, praktisch nicht mehr als das Wirken des Gehirn-Verstandes in dem niederen astral-psychischen Apparat des menschlichen Denkvermögens. Aber in unserer Philosophie wird, wie wir wissen, das Wort Psychologie als etwas ganz anderes und in edlerer Bedeutung angewandt: Wir könnten es Pneumatologie oder die Wissenschaft vom Studium des Geistes nennen, weil alle inneren Fähigkeiten und Kräfte des Menschen letzten Endes dem Geist entspringen. Doch da dieses Wort Pneumatologie ungebräuchlich ist und Verwirrung stiften könnte, bleiben wir bei dem Wort Psychologie. Wir meinen damit das Studium des inneren Menschen, das Untereinanderverbundensein seiner Prinzipien oder Energie- und Kraftzentren – das, was der Mensch in seinem Inneren in Wirklichkeit ist.

Die Theosophie bietet dieses psychologische System mit der Gewissheit und in dem Bewusstsein an, dass der Mensch – der es auf sich selbst und die Probleme des täglichen Lebens anwendet – seinen höchsten praktischen Wert entdecken wird. Es ist kein neues System. Es wurde vor vielen Jahrhunderten auf den immer existierenden und unveränderlichen Gesetzen des Universums gegründet, wovon wir Menschen – unsere Natur, Probleme und Evolution – ein untrennbarer Teil sind. Es ist ein System, das nicht auf Experimenten beruht. Es wurde von den ‘Sehern und Weisen der Jahrhunderte’ entwickelt, erprobt und so unfehlbar gemacht, wie es auf dieser Welt nur möglich ist. G. de Purucker sagt:

Die wahren Seher aber, die großen Lehrer der Menschheit, sind zuverlässige und relativ unfehlbare Führer, sofern ihre eigenen erwachten spirituellen und intellektuellen Fähigkeiten und Eigenschaften ausreichen, denn sie sind auf zwei Wegen oder Weisen in die tiefsten Geheimnisse des Geistes und der Materie vorgedrungen. Danach haben sie für ihre weniger evolvierten Gefährten des Menschengeschlechts ihr relativ unfehlbares Wissen aufgezeichnet. Die eine Weise ihres Vordringens war die Untersuchung der unauslöschlichen Aufzeichnungen des Astrallichts, welche die Darstellung der gesamten Evolution vom ersten Aufdämmern der Zeiten an enthalten. Die zweite geschieht durch Einweihung, durch die man, zumindest in den höchsten Einweihungen, dem eigenen inneren Gott gegenübertritt. … Göttliche Weisheit und alles nur mögliche menschliche Wissen sind im Bewusstsein der inneren Göttlichkeit eingehüllt. …

Es gibt also zwei Quellen der großen Kraft und Weisheit der Seher und Weisen oder höheren Mahātmas: Erstere kommt aus dem Inneren, aus der inneren Kraft und Weisheit, die während vergangener Zeitalter in vielen früheren menschlichen Inkarnationen in verschiedenen Teilen der Welt gewonnen wurde, wodurch das menschliche Ego zur selbsterkennenden Einheit mit dem inneren Gott erweckt wird. Zweitens von ‘außen’ her, wenn man so sagen darf – obwohl das Wort ‘außen’ strenger Kritik ausgesetzt ist –, durch Einweihung, verbunden mit einem sich ständig erweiternden Grad der Empfänglichkeit als Mitglied der großen Bruderschaft hoher Eingeweihter. So kommt es, dass die geheimsten Mysterien der Natur jenen in zunehmendem Maße enthüllt werden, die einmal den Zustand und die spirituelle Stufe der Mahātmas erreicht haben.’

– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 1041-2

Das einzig Neue an diesem sehr alten System ist seine heutige Formulierung in menschlicher Sprache mit einigen notwendigen Anpassungen an die zeitgemäße Ausdrucksweise. Es gründet heute, wie schon seit jeher, auf der Existenz des kosmischen Gesetzes, das den Menschen, wie auch das ihn umgebende Universum, als ein siebenfältiges Wesen offenbart. Ferner zeigt dieses System uns den einzigen Weg zum Glück – Harmonie in Denken, Wort und Tat, mit dem universalen Herzen der unpersönlichen Liebe, in dem wir alle spirituell leben, uns bewegen und unser Dasein haben.

Warum Karma in Vergessenheit geriet

Die Frage scheint berechtigt, warum eine Lehre, die mit den Tatsachen und dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt, im Westen lange Zeit nicht die Anerkennung fand, die sie im Osten hatte, wo die alte Weisheit nie vergessen wurde. Die Antwort braucht man nicht weit entfernt zu suchen. Im Westen wurde der Mensch gelehrt, an einen persönlichen Gott außerhalb von sich selbst zu glauben, einen Gott, der mit Gebeten beeinflußt werden kann und der tatsächlich eine Widerspiegelung der menschlichen Persönlichkeit im großen ist. Zugleich lehrte man ihn, daß er in Sünde geboren sei, und daß ein Zustand des ewigen Glücks oder ewiger Verdammnis diesem kurzen Leben auf Erden folgen werde, einem Leben, in dem es häufig ungleiche Chancen gibt.

Es ist verständlich, daß diese Ansichten die Entfaltung der unpersönlichen, erhabenen und göttlichen Aspekte der menschlichen Natur hemmen. Daß man ihn lehrte, seine Sünden könnten verziehen werden, und daß er glauben sollte, daß das Blut des Gottessohnes ihn retten werde, ließ sein Gefühl für Gerechtigkeit abstumpfen.

Trotzdem spielen Eigenschaften wie Mitleid, Freundlichkeit, Duldsamkeit und Barmherzigkeit noch immer eine bedeutende Rolle im Westen, was ein unverkennbarer Beweis für den göttlichen Kern im Herzen des Menschen ist.

Aber wenn wir uns außerhalb des kleinen Glaubenskreises begeben und das Universum als Ganzes betrachten, das durch die ausgezeichnete Anpassung seiner Teile ausbalanciert ist, wie empört sich alle gesunde Logik, wie der schwächste Flimmer eines Gerechtigkeitssinnes gegen diese stellvertretende Erlösung!

Wenn ein Verbrecher nur gegen sich selbst sündigte und niemand außer sich selbst Böses tat, wenn er durch ernsthafte Reue die Auslöschung vergangener Ereignisse nicht nur aus dem Gedächtnisse des Menschen, sondern auch aus dem unvergänglichen Verzeichnisse, das keine Gottheit – selbst nicht die Erhabenste der Erhabenen, verschwinden machen kann – verursachen könnte, dann würde dieses Dogma nicht unbegreiflich sein. Aber zu behaupten, daß man seinem Mitmenschen Unrecht tun dürfe, ihn erschlagen, das Gleichgewicht der Gesellschaft und die natürliche Ordnung stören dürfe und dann – ob aus Feigheit, Hoffnung oder Zwang, das ist gleichgültig – die Verzeihung erlangen könne durch den Glauben, daß das Verspritzen des Blutes des Einen das Blut des anderen abwäscht, das man verspritzt hat – das ist mehr als abgeschmackt! Kann das Resultat eines Verbrechens selbst dann, wenn das Verbrechen verziehen würde, aufgehoben werden? Die Wirkungen einer Ursache sind nie auf die Grenzen einer Ursache beschränkt, noch können die Folgen eines Verbrechens auf den Täter und sein Opfer beschränkt werden. Sowohl jede gute als auch jede üble Handlung haben ihre Wirkungen, so sicher wie der Stein, der in ein ruhiges Wasser geschleudert wird.

– H. P. BLAVATSKY, Die entschleierte Isis, Bd. II, S. 545

Es ist erstaunlich, daß Verdrehungen und unkorrekte Erklärungen der wahren Lehren jemals entstehen konnten; daß man Menschen fand, die sie lehrten oder selbst daran glaubten. Es gibt viele Rätsel, die bestimmt einst gelöst werden müssen. Es besteht kein Zweifel, daß der große Lehrer, bekannt als Jesus, einer der Avataras, die in bestimmten zyklischen Perioden erscheinen, niemals solche Dogmen lehrte. Ebenso wie alle anderen großen Lehrer kam er, um die alte Weisheit, die unerschöpfliche Quelle aller religiösen und philosophischen Systeme der Welt, zurückzubringen; denn anfänglich war das Christentum reine alte Weisheit. Dies kann durch ein eingehendes Studium jener Zeiten im Lichte der neopythagoräischen und neoplatonischen Systeme bewiesen werden. Seine Lehren behaupteten sich wahrscheinlich noch fünfzig Jahre über seinen Tod hinaus, aber selbst Jesus konnte nicht verhindern, daß die spirituelle Strömung jener Zeit verebbte. Etwa zur Zeit des Pythagoras begann ein dunkles Zeitalter, das sich während einiger kürzerer Perioden ein wenig aufhellte, aber allmählich düsterer wurde und die Intuition des Menschen verdunkelte. Schließlich wurden im fünften Jahrhundert die Mysterienschulen, welche die anerkannten Kanäle der Wahrheit waren und deren Licht nur noch schwach leuchtete oder schon fast erloschen war, auf Befehl des Kaisers Justitianus geschlossen.

Viele der alten Formen und Zeremonien wurden zwar von den christlichen Kirchen benutzt, aber das Leben und die Bedeutung gingen verloren, so daß neue Interpretationen ihren Platz einnahmen, wodurch die Träger der spirituellen Herrlichkeit zu Werkzeugen mentaler Betäubung wurden. Riten und Formen führten den Menschen von der Wirklichkeit weg und verschleierten seine Seele. Die breite Masse wurde von einer selbstsüchtigen Angst befallen, die von anderen ausgenutzt wurde, so daß allmählich eine dichte Wolke den Geist des Menschen zu umhüllen schien. Dadurch wurde jede Kenntnis der ruhmreichen Vergangenheit ausgelöscht, und der Mensch konnte selbst die erleuchteten Gebiete der Erde aus seiner eigenen Zeit nicht wahrnehmen, wie das Goldene Zeitalter Chinas, das mit Li-Shi-min begann, bis die Europäer sich schließlich im Dunkel des Mittelalters verloren und sich damit isolierten.

Man spricht über das Christentum, als würde es gänzlich vom Judentum abstammen. Das stimmt nur teilweise. Es ist, seine Theologie betreffend, fast ganz dem falsch verstandenen Griechischen Denken entlehnt, vornehmlich den neopythagoräischen und neoplatonischen Systemen. Das wird für jeden deutlich, der die Schriften derer liest, welche die großen Lehrer der christlichen Theologie genannt werden, wie Dionysius, der sogenannte Areopagita, dessen System wesentlich der neoplatonischen Philosophie entlehnt wurde. Hauptsächlich von ihm leiten sich wiederum die heutigen Standardwerke der Römischen Kirche ab. Ich meine die Schriften Thomas Aquins. Diese sind heute der Maßstab, nach dem sich die Theologie von Rom richtet und nach dem sie entscheidet, wenn Streitfragen gelöst werden müssen. Wenn dem auch so ist, und viel von dem, was die früheren Kirchenväter übernahmen, noch stets als Faktor und Wort in der christlichen Theologie aufrechterhalten wird, so hat diese Religion dennoch den Geist dieses frühen heidnischen Denkens völlig vergessen; und heute ist diese Religion fast ganz auf ein System der Formen und Zeremonien beschränkt.

– G. DE PURUCKER, Fundamentals of the Esoteric Philosophy, S. 487 (Ausgabe 1979)

… Praktisch beruhten alle staatlichen Institutionen des Altertums, unter anderem die Strafangelegenheiten, auf dem, was in den Mysterienschulen vor sich ging. So wurde zum Beispiel die Kreuzigung der Römer direkt aus einer Einweihungszeremonie übernommen, dem „Mystischen Tod“; übernommen, gestohlen und später, in degenerierten Zeiten, vom Staat als Instrument des legalen Mordes mißbraucht. Ein weiteres Beispiel, das aus der Zeremonie des „Mystischen Todes“ entnommen wurde, war der „Kelch“, in Indien der Soma-Trank. In Griechenland wird Sokrates damit bestraft, aus dem Schierlingsbecher zu trinken; und wir werden an Jesus erinnert, der darum bat, daß der „Kelch“ an ihm vorüberziehen möge. Es könnten noch zahlreiche Beispiele verschiedenster Art genannt werden. …

Ein weiteres erwähnenswertes Beispiel von ganz anderer Art ist, daß die weltlichen Herrscher eines Staates bei der formellen „Krönung“ eine Krone oder ein Diadem trugen – eine Zeremonie, die von den Mysterien übernommen wurde. Einige der frühesten Kronen, welche sie trugen, hatten Stacheln, die an die „Dornenkrone“ von Jesus erinnern.

– ebenda, S. 255

Es waren einzelne Weise, getrieben durch damalige politische Geschehnisse, belauert und verfolgt von den fanatischen Bischöfen des frühen Christentums – die damals weder ein festgelegtes Ritual noch Dogmen oder Kirchen hatten – es waren diese Heiden, welche die Kirchen gründeten. Indem sie die Wahrheiten der Weisheits-Religion äußerst genial mit den exoterischen Fiktionen, welche die breite Masse so sehr liebte, mischten, waren sie es, welche die ersten Grundsteine der ritualistischen Kirchen legten …

– H. P. Blavatsky: Lucifer, Vol. IV, März 1889

Andere auffällige Beispiele sind die Feste zur Weihnachts- und Osterzeit. Diese sind vermaterialisierte (verweltlichte) Widerspiegelungen der heiligen Einweihungszeremonien, wie sie damals existierten und in Symbolen beschrieben wurden, die aber die Kirche als materielle Vorgänge auslegte. Das alles unterstützt unsere Behauptung, daß das Christentum am Anfang die reine alte Weisheit vertrat. Glücklicherweise liegt das dunkle Mittelalter hinter uns. Es ist vorbei, und ein langer Zyklus voller Möglichkeiten liegt vor uns, aber die alten Dogmen hinterließen einen Makel, der bis heute noch nicht verschwunden ist. Zu den Lehren, die verdrängt wurden, die jedoch zum Verständnis des Lebens wesentlich sind, gehört die Reinkarnation. In den ersten Jahrhunderten des christlichen Zeitalters glaubte man daran, aber als die Kirche eine politische Macht wurde, setzte sie sich zur Wehr. Schließlich wurde die Reinkarnationslehre auf dem zweiten Konzil von Konstantinopel, 553 n. Chr., verbannt, wonach das Wissen über sie und von ihr allmählich in der dunklen Nacht erlosch, die dem Bann folgte.

Ohne die Tatsache der Reinkarnation wäre das Leben eine Absurdität, eine groteske, sinnlose Komödie. Die Ereignisse, Emotionen, Bestrebungen, das Glück oder Unglück in einer einzelnen Lebensperiode wären ebenso unlogisch, zusammenhanglos und durcheinander wie die eines bestimmten Tages, dessen Gestern und Morgen fehlen würden. Versuchen Sie einmal sich einen solchen verrückten, aus seinem Zusammenhang gerissenen Tag vorzustellen. Oberflächlich betrachtet könnte man sagen, daß wir von einem Tag zum nächsten denselben Körper, denselben Verstand und die gleiche Erinnerung besitzen. Das trifft nicht für die aufeinanderfolgenden Leben zu. Die vielumfassende archaische Philosophie, deren Aspekte alle ineinandergreifen und die alle Teile auf das Ganze bezieht, kennt jedoch keine unerklärbare Lücke, sondern zeigt die perfekte Analogie zwischen dem Tages- und dem Lebenszyklus. Alle Wesenheiten, welche die zusammengesetzte Natur des Menschen formen, trennen sich, wie bereits erwähnt, am Ende eines Lebens und kehren in ihre eigenen Bereiche zurück. Der Körper fängt an, sich zu zersetzen, und seine Lebensatome sammeln Erfahrungen, während sie durch die Naturreiche ziehen. Das menschliche oder reinkarnierende Ego, das in einen Bewußtseinszustand übergeht, der Devachan genannt wird, läßt die Eigenschaften oder Skandhas zurück, welche die Persönlichkeit formen. Diese lange Nacht ist für die menschliche Seele eine Zeit des absoluten Glücks und der völligen Ruhe. Alle Erfahrungen aus der Vergangenheit werden assimiliert, alle höheren Bestrebungen werden verwirklicht und im Charakter verwoben. Die Seele erwacht erfrischt und gestärkt aus dieser Nacht, um ihre noch nicht erledigten Pflichten wieder aufzunehmen. Eine auffallende Tatsache in der Analogie zwischen dem Schlaf und dem Tod ist, daß der vollständige Mensch in all seinen Bestandteilen als derselbe zurückkehrt. Die höheren Aspekte werden wieder zusammenwirken, die Skandhas werden wieder aktiv, und dieselben Lebensatome, welche den alten Körper bildeten, werden wieder magnetisch zu ihrer früheren Stelle zurückgezogen. Die Kulisse ist neu, aber der Schauspieler ist derselbe. Er hat dieselben Energien und Neigungen, dieselbe Fähigkeit oder Unfähigkeit, um die Probleme, die er selbst geschaffen hat, zu lösen und denen er deshalb die Stirn bieten muß. Ohne die Kenntnis dieser Tatsachen ist es für einen Menschen unmöglich zu begreifen, daß er ernten muß, was er einst säte. Der Faden der Kontinuität, der für die höhere Natur des Menschen ungebrochen und deutlich sichtbar ist, ist in jeder folgenden Geburt für das neue Bewußtsein nicht wahrnehmbar. Weil die Intuition durch falsche Dogmen verdunkelt wurde, ist das Leben zu einem Rätsel geworden. Unsere Zivilisation zeigt tatsächlich die traurigen Folgen des Verlustes eines wahren, tiefwurzelnden Sinns für Gerechtigkeit und Verantwortung.

Das Gesetz von KARMA ist unentwirrbar mit dem der Reinkarnation verwoben. Nur diese Lehre, sagen wir, kann uns das geheimnisvolle Problem von Gut und Böse erklären und den Menschen mit der schrecklichen und scheinbaren Ungerechtigkeit des Lebens aussöhnen. Nur eine solche Gewißheit kann unseren empörten Gerechtigkeitssinn beruhigen. Denn, wenn jemand, der mit der edlen Lehre nicht vertraut ist, um sich blickt und die Ungleichheiten von Geburt und Besitz, von Intellekt und Fähigkeiten beobachtet; wenn jemand sieht, daß Narren und Bösewichten Ehre erwiesen wird, auf die das Glück seine Gaben durch den bloßen Vorrang der Geburt angehäuft hat, und seinen nächsten Nachbarn mit all seinem Verstand und edlen Tugenden – der in jeder Beziehung viel mehr verdient – aus Not oder aus Mangel an Sympathie zugrunde gehen sieht; wenn jemand das alles sieht und sich abwenden muß, ohne Möglichkeit, das unverdiente Leiden zu lindern, wenn seine Ohren klingen und sein Herz von den Schmerzensschreien um ihn her blutet – dann bewahrt ihn allein jenes gesegnete Wissen von Karma davor, Leben und Menschen, sowie ihren vermuteten Schöpfer zu verfluchen …

Wahrhaftig, ein fester ‘Glaube’ ist erforderlich, um zu glauben, daß es ‘Vermessenheit’ ist, die Gerechtigkeit von jemand in Frage zu stellen, der den hilflosen schwachen Menschen nur dazu erschafft, um ihn zu ‘verwirren’, und einen ‘Glauben’ zu erproben, mit dem ihn zu begaben jene ‘Macht’ obendrein vergessen, wenn nicht unterlassen haben mag, wie es manchmal vorkommt. Man vergleiche dieses blinde Glaubensbekenntnis mit dem philosophischen Glauben, der auf jeglichem vernünftigen Beweise und auf Lebenserfahrung beruht, an Karma-Nemesis oder das Gesetz der Wiedervergeltung …

Karma schafft nichts, noch plant es. Der Mensch ist es, der plant und Ursachen schafft, und das karmische Gesetz gleicht die Wirkungen aus, dieser Ausgleich ist keine Handlung, sondern universale Harmonie, die immer danach strebt, ihre ursprüngliche Lage wieder einzunehmen, wie ein Bogen, der, zu gewaltsam niedergebogen, mit entsprechender Kraft zurückspringt. Wenn er zufällig den Arm, der versucht hatte, ihn aus seiner natürlichen Lage zu biegen, verrenkt, sollen wir da sagen, daß es der Bogen war, der unseren Arm gebrochen hat, oder daß unsere eigene Torheit uns hat Schaden nehmen lassen?

– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Bd. II, S. 317-19

Der Einfluß der Reinkarnation

Wenn wir die heutige Weltsituation betrachten, drängt sich der Eindruck auf, daß der Grundton unserer Zeit ein verantwortungsloser Individualismus ist. Beinahe alles, was zur ‘freien Entfaltung der Persönlichkeit’ beiträgt, scheint erlaubt zu sein. Die Resultate, wie sie täglich in der Presse berichtet werden oder wie wir diesen bei unserem vergeblichen Bemühen um moralische und soziale Reform begegnen, sind oft bedrückend.

Wir brauchen eine neue Basis für die ethische Erziehung des Menschen. Kirchen, Erziehungseinrichtungen, sozialer Dienst und Gefängnisreform haben alle ihren Nutzen. Doch bevor nicht das Kind von den ersten Lebensjahren an zu einer vernünftigen, befriedigenden Lebensphilosophie erzogen werden kann, die aus den Tatsachen der Natur selbst erwächst, wird es keine konstruktive, dauernde Verbesserung im moralischen Charakter unserer Zivilisation geben.

Die Theosophie kann solch eine vernünftige Grundlage für die Erziehung und für das Leben bieten. Die Reinkarnation ist nur eine der tiefsinnigen und umfassenden Wahrheiten, und jedes einzelne Gesetz, auf die sie den Menschen erneut hinweist, ist in der Natur begründet. Würde man sie ebenso gewissenhaft studieren wie Chemie oder Musik, so würden sich viele Probleme lösen. Das Leben soll einen Sinn und eine Bedeutung erhalten, und der Mensch soll ein Ziel entdecken, das befriedigt und inspiriert.

Lassen Sie uns nun den Glauben an die Reinkarnation auf seinen ethischen Inhalt hin überprüfen. Als erstes können wir sagen, daß der Mensch anfängt, sich in einem anderen Licht zu sehen. Wenn er an seine eigene Vergangenheit denkt, akzeptiert er die Vorstellung, daß er bereits viele Male gelebt und dazu beigetragen hat, einige der großen Kulturen der Erde zu schaffen. Das gibt ihm das Gefühl, dazu zu gehören, ein Teil des großen Ganzen zu sein, und das ist ein bedeutendes Gegengewicht zu dem Gedanken, ‘in Sünde’ geboren zu sein. Allmählich wird er die Einheit mit dem universalen Leben fühlen; so wird in seinem Herzen der religiöse Instinkt wiedergeboren, und er wird in seinem Empfinden der Einheit mit dem Göttlichen Trost finden.

Später wird er auch seine Umgebung in diesem neuen Lichte sehen und erkennen, daß sie genau so ist, wie er sie in einem vorigen Leben aufgebaut hat. Eine Empfindung kreativer, moralischer Kraft kann sich in ihm entfalten, und er erkennt, daß er ein Mitarbeiter des Ganzen ist. Wenn er an seine Freunde und auch an die, welche er als seine Feinde betrachtet, denkt, weiß er nun, daß sie Gefährten für die Ewigkeit sind, wodurch sich sein Verhalten zu ihnen von Grund auf ändert.

Das gilt auch für die Ehe. Unter dem Einfluß der zeitlichen Umstände scheint sie mit den Jahren immer komplizierter und schwieriger zu werden. Man nimmt sie leichtfertig hin. Häufig verfügen junge Menschen über keine Lebensphilosophie, die ihnen zeigt, wie sie das sexuelle Leben mit ethischen Grundsätzen vereinigen können. Sex ist eine der Tatsachen des menschlichen Daseins. Aber Dank der Tatsache, daß dieses Thema regelmäßig in Presse, Funk und Fernsehen behandelt wird, ist das letzte Wort hierzu noch nicht gesprochen.

Junge Menschen, welche die Reinkarnation jedoch als eine Tatsache in der Natur akzeptieren, erkennen, daß die Sexualität nur zu dem zeitlichen und vergänglichen Teil unseres Wesens gehört, zu der niederen Persönlichkeit, und nicht wie Zufriedenheit, die in ihrer Wesensart beständig ist, zum göttlichen, unsterblichen, reinkarnierenden Ego. Die unbegrenzte Hingabe an die Wünsche und Begierden des niederen menschlichen Aspekts mag ein zeitliches ‘Glück’ bescheren, doch es steht dem höheren Glück im Wege. Die jungen Menschen werden dazu geführt, diese Lehre durch das Studium der Geschichte und der Biographie, durch die Beobachtung des Lebens der Mitmenschen um sie herum, zu testen und bei ihren eigenen Schwierigkeiten anzuwenden. Wenn sie das tun, werden sie in bezug auf die dauerhaften Seiten der Gemeinschaft und Liebe wunderbare Entdeckungen machen, was, könnte man die Jugend in der Welt davon überzeugen, die Gesellschaft völlig umwandeln würde. Wenn junge Menschen glauben, daß sie bereits in früheren Leben zusammen waren und daß ihre heutigen Schwierigkeiten das Resultat vergangener Fehler sind, werden sie leicht begreifen, daß sie das Problem besser gleich anpacken sollten, um es zu einem glücklichen Ende zu bringen. Sich der Situation jetzt zu entziehen, bedeutet lediglich Aufschub und die Bereinigung wird später schwieriger sein.

Was eine harmonische Ehe betrifft, so brauchen wir nur anzumerken, daß die Lehre der Reinkarnation in allen menschlichen Beziehungen und in allen Formen der bleibenden Liebe ein helleres Licht auf die Wirklichkeit einer wahrhaftigen Partnerschaft wirft. Die Ehe ist eine heilige Sache; damit sie jedoch eine wirkliche Ehe ist, muß die Liebe, auf der sie aufgebaut ist, ihren Ursprung im Spirituellen haben. Das Wissen von der Reinkarnation, wenn sie ernsthaft studiert und wirklich verstanden wird, setzt jeglicher moralischer Schwäche ein Ende.

Wie vollkommen anders betrachten die Eltern, die an Reinkarnation glauben, ihre Kinder, als die Väter und Mütter, die meinen, daß die Kinder ihr Eigentum seien oder daß sie zufällige Produkte animalischer Entwicklung seien. Durch die Kenntnis der Theosophie erfahren sie etwas von dem Licht der essentiellen Göttlichkeit des Menschen. Für jene, die das begreifen, ist die Geburt eines Kindes mehr als nur eine äußerliche Geburt, sie ist etwas Göttliches. Das Kind, das im Begriff ist wiedergeboren zu werden, kehrt aus der ‘Himmelswelt’ zurück und bringt eine heiligere und reinere Atmosphäre in das Leben derer, denen es anvertraut ist, mit. Sowohl der Vater als auch die Mutter nehmen Anteil an einem der tiefsten und heiligsten Lebensmysterien. Sie werden sich nicht nur darauf vorbereiten, um ihren Kindern die bestmöglichen Vehikel für das Leben auf der Erde zu geben, sondern sie werden auch mit Freude die tieferen Vorbereitungen auf sich nehmen, um ihre Kinder weise und einfühlsam durch die karmischen Probleme zu führen, die sie aus ihren vergangenen Inkarnationen geerbt haben und von denen sie selbst ein bedeutender Teil sind. Es bedarf keiner Erklärung, daß eine solche Haltung für das Leben der Eltern wie auch der Kinder viel bedeuten kann. Wie Katherine Tingley in einer ihrer Ansprachen sagt:

In einer Familie, die so denkt, ist in der Tat das Königreich der Himmel anwesend. Draußen mögen Stürme wüten, Prüfungen, Armut, Streit, tragische Ereignisse, Enttäuschungen aller Art mögen von außen den Frieden bedrohen; aber wie zahlreich und ernsthaft sie auch sind, sie können die Bauleute jener Familie nicht entmutigen, die im Inneren den Himmel trägt, der sich in einem Familienleben widerspiegelt, das der Ausdruck des höheren Gesetzes ist.

Ihre Kinder würden in einem Wunder von neuem Glück geboren werden, das die Atmosphäre erfüllt. Vor der Geburt des Kindes würden sie sich in einer mehr als alltäglichen Weise darauf vorbereiten. Dieses Paar heiratete mit Verständnis; sie kannten die Gesetze des Lebens; sie waren Freunde und nicht nur Liebende.

Ein Kind wurde ihnen geboren, aber bevor es das Licht erblickte, formte ihr Denken schon seinen Charakter; der Einfluß der Harmonie, des Friedens, der Hoffnung und des Mutes, die sie in ihr Leben brachten, bereiteten auch dem Kind einen größeren, breiteren Weg als gewöhnlich; eine Umgebung, geeignet für eine Seele, um darin zu leben, so daß sie sich nach der Geburt nicht in dieser Welt ausgesetzt findet, sondern sich sofort wieder zu Hause in ihrer Umgebung fühlt.

The Wine of Life, S. 68, 69

Wann immer wir den fundamentalen Gesetzen nachgehen, aus denen die Reinkarnation stammt, erkennen wir, daß Evolution ein ethischer Prozeß ist – von eher spiritueller als physischer Natur. Die physische Evolution ist nur die äußerlichste und am wenigsten wichtige Seite der Angelegenheit. Was nützt schließlich ein gesunder und wohlgeformter Körper, wenn er zu üblen Zwecken mißbraucht wird? Es ist allgemein bekannt, daß körperliche Vollkommenheit nicht notwendig ist, wenn es um moralische und intellektuelle Genialität geht. Wie häufig kommt es vor, daß körperliche Schönheit eine Quelle des Unglücks und des sittlichen Verfalls ist? Der Charakter ist das spirituelle Kleid der Evolution. Er ist das einzige, das wir aus diesem Leben mitnehmen können, wenn wir scheiden, und wir bringen ihn als unseren Erbteil aus der Vergangenheit wieder mit, wenn wir für eine neue Inkarnation auf die Erde zurückkehren.

Die moderne Auffassung „laßt uns essen und trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir tot“ entstand dadurch, daß wir die Erkenntnis verloren, daß wir in unserem tiefsten Inneren unvergängliche, spirituelle Wesen sind. Die materialistische Wissenschaft nährte die Vorstellung in uns, daß wir hochentwickelte Abkömmlinge der Affen seien. Die Religion hat nichts zu bieten, das durch die Gegebenheiten der Natur und des Lebens hinreichend gestützt wäre, um dem demoralisierenden Einfluß dieser Lehre entgegenzutreten. Als der materialistische Einfluß sich seinem Höhepunkt näherte, war dies einer der wichtigsten Gründe, warum H.P.Blavatsky, dazu inspiriert von ihren Meistern, vor mehr als hundert Jahren die Theosophische Gesellschaft gründete. Der Materialismus selbst wurde damals von einem bekannten englischen Gelehrten, J. S. Haldane, folgendermaßen charakterisiert: „Der Materialismus, einst eine wissenschaftliche Theorie, ist nun das fatalistische Glaubensbekenntnis von Tausenden; aber der Materialismus ist keinesfalls besser als der Aberglaube, der sich auf derselben Stufe mit dem Glauben an Hexen und Teufel befindet.“

Die Theosophie zeigt das wahre spirituelle Ideal der Evolution und wie es praktisch auf alle Lebensgebiete angewandt werden kann – spirituell, intellektuell, moralisch und physisch. In der Reinkarnationslehre steht die ethische Seite der Evolution an erster Stelle, denn hier sind Gerechtigkeit, moralische Konsequenzen und Wachstum an spiritueller Kraft die entscheidenden Einflüsse. Ohne spirituelles Wachstum kann man das Beste in sich nicht entfalten. Kräfte, die durch Leben voller Anstrengung erworben und nur zur eigenen Befriedigung gebraucht wurden, gehen verloren, denn sie werden in späteren Leben durch die Schwierigkeiten und das Leid, welche eine direkte Folge der Selbstsucht sind, eingedämmt. Die Lehre der Reinkarnation macht deutlich, daß der beste Weg, um diese Kräfte beständig und göttlich zu machen, darin besteht, sie dem Dienste der Menschheit zu widmen. Auf diese Weise war es den Heilanden der Geschichte möglich, den Verstand und die Herzen von ganzen Menschenrassen zu leiten.

Wir sollten das Thema nicht verlassen, ohne eine weitere wichtige Folge dieses Glaubens beachtet zu haben, und das ist die Wirkung auf das Leben alter Menschen. Beinahe alle Menschen blicken mit Furcht dem Alter entgegen, denn es bedeutet für die meisten, wenn nicht Schwäche oder körperlichen oder geistigen Verfall, so doch beiseite geschoben zu werden. Das Alter ist jedoch ein sehr wichtiger Teil unseres Lebens:

Das reinkarnierende Ego oder die ‘Seele’ ist erst beträchtlich kurze Zeit vor dem Tode des physischen Körpers wirklich völlig inkarniert, was bedeutet, daß für die physische, mentale und spirituelle Entwicklung, nahezu bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Auflösung des physischen Körpers beginnt, eine fortdauernde Möglichkeit besteht. Mit anderen Worten, … hohes Alter ist nicht, wie manchmal törichterweise vermutet wird, unfähig zu lernen, und es ist nicht lediglich ein betrüblicher Abschnitt im menschlichen Leben, in dem das Beste vorüber ist und die Zukunft keine andere Hoffnung als den Segen des Sterbens bietet. Das genaue Gegenteil ist wahr, denn der Mensch sollte, wenigstens theoretisch, nahezu bis zur physischen Auflösung, sowohl in spiritueller als auch in intellektueller Kraft und Fähigkeit ständig voranschreiten.

– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 894

Diese Worte enthalten eine neue und ermutigende Botschaft für uns alle. Die weisen Alten erkannten diese Wahrheit an, indem sie dafür eintraten, daß die jungen Menschen zum Handeln und die Alten zur Beratung bestimmt waren. Eine der Tragödien des modernen Lebens besteht in der Diskrepanz zwischen den Rollen der Jugend und der Rolle derer des mittleren Alters, aber auch hier bietet die Reinkarnation eine Lösung. Wir dürfen natürlich die Tatsache nicht übersehen, daß, um dieses Ideal des Alters am besten verwirklichen zu können, es notwendig ist, in der Jugend und im mittleren Alter in Übereinstimmung mit unserer göttlichen Natur zu leben, damit das Alter die Ernte der spirituellen Entwicklung einbringen kann. Aber es ist natürlich noch nicht zu spät, unsere Lebensweise zu ändern und zu verbessern, und keine einzige Tat bleibt ohne Folgen.

Die ethische Seite des Glaubens an die Reinkarnation wird in Man in Evolution von Dr. G. de Purucker folgenderweise zum Ausdruck gebracht:

Wir lernen mit und durch die Reinkarnation als einer natürlichen Tatsache die Schönheit des inneren Lebens kennen, wodurch wir wachsen und ein größeres Verständnis entwickeln, nicht nur von uns selbst, sondern auch von der inneren Schönheit, die in der Harmonie der universalen Gesetze besteht.

Denn hinter allen Dingen liegen Schönheit, Glück und Wahrheit.

Was die Menschen Böses, Mißgeschick und Unglück nennen, und die verheerenden Phänome der physischen Welt, die sich manchmal ereignen, entstehen aus dem Konflikt der Willensäußerungen und Kräfte der verschiedenen Scharen unvollkommener, aber evolvierender Wesen, und eine dieser Scharen wird durch das gebildet, was wir kollektiv die Menschheit nennen.

– S. 244-245

Vor allem anderen zeigt die Reinkarnation, daß Bruderschaft eine große Wahrheit des Universums ist, die Basis und erhabenste Tatsache in der Natur. Die Essenz und die Evolution all dessen, was ist, wird durch sie regiert. Der erste der fundamentalen Lehrsätze der Alten Weisheit ist, daß „alle Menschen in ihrem innersten spirituellen Wesen nicht nur miteinander verwandt sind, sondern eine vollkommene, unaussprechliche Einheit bilden“, um in den Worten Dr. de Puruckers zu sprechen. Und er fügt dem hinzu, daß der fundamentalste Fehler, den wir machen können, der ist, die Wahrheit der vollkommenen und essentiellen Einheit aller Wesen zu leugnen, sei es direkt in Wort oder Gedanken oder indirekt durch Handlungen. Das würde heißen, so könnte man beinahe sagen, die Göttliche Quelle zu leugnen, in der wir alle leben, in der wir uns bewegen und in der wir sind. In der Geheimlehre (Secret Doctrine, I, S. 17), läßt H. P. Blavatsky erkennen, daß diese Wahrheit spiritueller Natur ist. Sie stellt fest:

Die fundamentale Identität aller Seelen mit der universellen Oberseele . . . und die verpflichtende Pilgerfahrt für jede Seele – ein Funke der vorgenannten – durch den Zyklus der Inkarnation (oder ‘Notwendigkeit’), in Übereinstimmung mit dem zyklischen und karmischen Gesetz. … die Grundlehre der esoterischen Philosophie anerkennt keine Privilegien oder besonderen Gaben des Menschen, außer jenen, die sein eigenes Ego durch persönliche Anstrengung und Verdienst während einer langen Reihe von Metempsychosen (Seelenwanderungen) und Reinkarnationen gewonnen hat.

Wir sehen also, daß alle Wesen denselben Ursprung in dem Einen Universalen Leben haben, und daß jede Gruppe ihre eigene Rettung bewerkstelligen muß, unter Bedingungen, die für alle Mitglieder der Gruppe gleichermaßen gültig sind. Der gegenwärtige Mensch arbeitet an dem Ziel seiner Evolution durch den Zyklus der Notwendigkeit, auf dieser Erde Reinkarnation genannt. Diese Tatsachen zeigen die grundsätzliche Gleichheit aller Wesen, was Ursprung, Wachstum und die Bestimmung betrifft. Denn im Herzen eines jeden, auf welcher Stufe der Evolution er auch steht, wohnt ein Gottesfunke, ein Strahl der Überseele oder des Universalen Lebens. In den Reichen unter dem Menschen brennt dieser Gottesfunken nur mit schwachem, instinktivem Licht. Im Menschen ist er größer geworden und sendet einen selbstbewußten Strahl aus, der seinen Weg erhellt, wenn er es zuläßt, und macht aus ihm ein moralisch verantwortungsbewußtes Wesen. In den Mahatmas hat sich dieser Gottesfunke zu einem Licht der Halb-Göttlichkeit entwickelt, der selbstbewußten Vereinigung mit dem Einen Leben; und in den Wesen, die über und höher als die Mahatmas stehen, ist der Funke zu einer strahlenden Flamme der reinen Göttlichkeit geworden. So reicht die riesige Leiter des Seins aus dem Bereich unserer gegenwärtigen spirituellen Vision weiter und aufwärts und verschwindet in der Herrlichkeit der unsichtbaren Welten.

Die schönste Seite dieser Lehre liegt in der grundsätzlichen Verantwortung einer jeden Gruppe von bewußten Wesen für jene Wesen, die auf der evolutionären Leiter unter ihnen stehen. Die Götter wachen über alle Gebiete des Seins und schenken dem Ganzen Inspiration und Leben. Die Mahatmas, die durch selbstgeleitete Evolution ihre Diener wurden, sind an erster Stelle die Helfer und die Älteren Brüder der Menschheit. Obwohl sie die Stufe des menschlichen Lebens und seine Erfahrungen bereits überschritten haben und zu höheren Reichen der Evolution aufsteigen könnten, wenn sie es nur wollten, entschieden sie sich dafür, bei der Menschheit zu verweilen, um ihr in ihrer spirituellen Entwicklung beizustehen und so die Götter dabei zu unterstützen, die Menschen zu beschützen und zu leiten. Von Zeit zu Zeit senden die Mahatmas Botschafter in die Welt, um die alten Wahrheiten, die im Laufe der Jahrhunderte entstellt und vergessen wurden, in einer neuen Form zurückzubringen. H.P .Blavatsky war eine solche Botschafterin, und die Theosophische Gesellschaft wurde gegründet, um als Kanal für die Alte Weisheit zu dienen, die Theosophie, die fast zwanzig Jahrhunderte für die westliche Welt verloren gegangen war und an die Menschheit zurückgegeben werden mußte.

Ein weiterer Aspekt der universalen Bruderschaft in Verbindung mit der Reinkarnation liegt in der individuellen Verantwortlichkeit, die der Mensch gegenüber den unter ihm stehenden Reichen hat. In bezug auf das ständige Kommen und Gehen der Atome, die unseren Körper bilden, sowie auf deren Auflösung und Transmigration nach dem physischen Tod des Menschen, bezieht sich das Folgende auf die oben erwähnten Gedanken:

Die Emanationen des Menschen bauen so die tierische Welt auf; die Tiere leben von diesen verschiedenen Arten von Lebensatomen, ob physischer, vitaler, astraler, mentaler oder anderer Art. . . . Die von ihm ausgehenden Lebensströme geben den Wesenheiten der unter dem Menschen stehenden Reiche Leben und evolutionäre Antriebe und ihre Eigenschaften, weil diese unter dem Menschen stehenden Reiche die evolvierten Ergebnisse der Gedanken und vitalen Emanationen der menschlichen Rasse sind.

– G. DE PURUCKER, Goldene Regeln der Esoterik, S. 60-61

Bruderschaft ist daher nicht nur ein Ideal oder ein Gefühl, sondern eine lebendige Tatsache. Und unsere ganze Misere kann darauf zurückgeführt werden, daß wir nicht wissen, daß Bruderschaft tatsächlich ein Gesetz unseres Daseins ist. Solange wir das nicht verstehen, werden wir, durch Selbstsucht vielerlei Art, der harmonischen Entwicklung von uns selbst und unserer Rasse im Wege stehen. Durch Reinkarnation, regiert und geleitet durch Karma, und durch die Hilfe unserer Älteren Brüder und noch höherer Wesen, wird die Menschheit schließlich die erhabenste Lehre der Evolution lernen, daß nämlich der Mensch nur durch Selbstlosigkeit und unpersönliche Liebe Freiheit, Glück und Stärke erlangen kann.

Wie in unserem Körper alle Zellen und Organe durch zahlreiche Bande miteinander verbunden sind und von einer zentralen Quelle genährt werden, so sind auch alle Wesen in der Natur aufs engste miteinander verbunden. Sie führen ihr eigenes Leben, doch sind sie zur gleichen Zeit die Zellen und Organe des größeren kosmischen Wesens, wozu auch die unzählbaren Universen gehören.

Die Einheit und Verbundenheit ist die Grundlage der universalen Bruderschaft, die wir in unserem persönlichen Leben zu einer Wirklichkeit machen müssen.