10 – Inneres und äußeres Karma

Wenn wir sagen, dass alles Karma ist, das Ergebnis früher in Bewegung gesetzter Ursachen, dann müssen wir unsere Perspektive menschlichen Karmas weit in die Vergangenheit ausdehnen, tatsächlich Millionen Jahre zurück, bis ins frühe Zeitalter, als der Mensch zum ersten Mal die Frucht des Wissens kostete und von da an zu lernen begann, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Es ist offensichtlich, dass wir seit jener lang zurückliegenden Zeit nicht nur für das, was wir dachten und taten, die volle Verantwortung zu tragen haben, sondern dass wir auch für die Wirkungen, welche unser Denken und Handeln zu allen Zeiten auf andere hatte, mitverantwortlich sind.

Wir können uns daher vorstellen, dass jede einzelne der Milliarden von menschlichen Seelen, welche sich während Tausenden und Abertausenden von Jahrhunderten auf dieser Erde verkörpert haben und wieder verschwanden, zahllose Anziehungen und Abstoßungen entwickelt und unzählige Ursachen in Bewegung gesetzt haben muss – Ursachen, die sich irgendwann, irgendwo und unter den richtigen Bedingungen unvermeidlich als Folgen auswirken werden. Karma ist jedoch keineswegs ein unbarmherziger Kreislauf von Säen und Ernten, ohne jede Möglichkeit, dieser Tretmühle zu entkommen. Keinesfalls. Das Leben, alles bewegt sich immer spiralförmig und nicht in einem geschlossenen Ring oder Kreis. Hier machen wir den größten Fehler, wenn wir erstmals auf die Idee von Wiedergeburt und Karma stoßen.

Wenn wir davon ausgehen, dass alles durch ein universales Gesetz regiert wird und dass der Kosmos auf Gerechtigkeit gründet, dann kann nichts zufällig geschehen; alles muss ein Ausdruck der Wirksamkeit des Gesetzes des Ausgleichs sein, des Gesetzes der Anziehung und Abstoßung, der Aktion und Reaktion. Wenn wir diesen Gedanken in all seiner logischen Konsequenz durchdenken, dann muss jeder von uns, der heute auf dieser Erde lebt, seit jenem sehr frühen Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte, als wir zum erstenmal auf selbstbewusste Art den Unterschied zwischen richtig und falsch erkannten, viele hunderte Lebensspannen durchlebt haben. Ganz gewiss muss es eine ununterbrochene Folge von Rückwirkungen geben, sonst hätten wir ein verrücktes Universum ohne Sinn und Zweck; und könnte es für die ewige Seele ein besseres Mittel zu Wachstum geben als sich zu entwickeln und aus den Wirkungen ihrer vergangenen Handlungen Nutzen zu ziehen?

Wenn wir diesen Weitblick haben, ist es nicht schwierig, den mächtigen Schwung des Schicksals zu spüren, welcher die Zivilisation auf ihrem Evolutionsweg bewegt. Es muss Zeiten schrecklichen Leidens geben, weil wir irgendwann, irgendwo das Gleichgewicht durch falsches Denken und durch unrichtiges Handeln gestört haben. Wir können uns kaum vorstellen, welche Menge von Karma jede Seele – ganz zu schweigen von den Völkern und Rassen – seit Urzeiten erzeugt hat. Es besteht ein Rückstand von Karma, der mit der Zeit abgetragen werden muss.

Es gibt viel mehr Arten von Karma als nur den physischen Aspekt, der uns zeigt, dass Feuer brennt und dass wir nass werden, wenn wir bei Regen hinausgehen. Wenn Karma ein universales Gesetzt ist, dann muss es auch universal wirken – das heißt auf der göttlichen, spirituellen, mentalen, emotionalen und physischen Ebene. Das bedeutet, dass wir ein göttliches Karma haben, ein spirituelles, ein mentales und ein emotionales Karma und ebenso ein physisches. So wie wir oft vom Höheren Selbst des Menschen sprechen und von seiner gewöhnlichen Persönlichkeit, können wir genauso sagen, dass es ein inneres Karma gibt, das zu seinem Höheren Selbst gehört, zu seinem Schutzengel, der seinen Ursprung in der inneren Göttlichkeit hat, und ein äußeres Karma, das zur alltäglichen Persönlichkeit gehört.

Gelegentlich scheint uns etwas in unserem Innern in Schwierigkeiten zu bringen. In gewisser Weise geschieht genau Folgendes: Das innere Karma, jenes Karma, das aus unserem Höheren Selbst kommt, macht sich in bestimmten Augenblicken bemerkbar; wir spüren beinahe, dass wir in eine bestimmte Richtung geführt werden, vielleicht sogar auf einen schwierigen Umweg, aber das Karma, das zu unserer Persönlichkeit gehört, scheint uns in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen. Dadurch entsteht ein Konflikt zwischen dem Gefühl tief im Innern, dass ein bestimmter Weg befolgt werden sollte, und den entgegengesetzten Impulsen der äußeren Natur. Wie können wir diesen Zwiespalt überbrücken, damit das innere und das äußere Karma harmonisch arbeiten können?

Wir müssen unseren Blick höher hinaufrichten, ihn vom Niederen abwenden und dorthin lenken, wohin er von rechts wegen gehört. Wenn wir das tun, erkennen wir, dass unser Vater oder Schutzengel seine Impulse fortwährend in unser menschliches Selbst schickt und, wenn unser Wunsch dahin geht, so zu leben, dass das Höhere in allen unseren Handlungen und in unserem Denken die Vorherrschaft hat, dann gibt es keine unnötige Belastung. Wenn wir unter diesen inspirierenden Einflüssen jedoch intuitiv erkennen, dass ein bestimmter Weg der richtige ist, unsere Aufmerksamkeit aber zum größten Teil auf unser gewöhnliches Bewusstsein gerichtet war, kann es sein, dass wir schrecklich verwirrt werden. Dann kann es zu einem echten Konflikt zwischen dem inneren und dem äußeren Karma kommen, zu einem Konflikt, der nicht aufhört, bis wir uns endgültig entschließen, der Weisung unseres Schutzengels zu folgen, dessen Ziel es ist, aus der Dunkelheit Licht zu erschaffen, die Evolution des Niederen in das Höhere.

Anfangs denken vielleicht viele, dass Karma entweder gut oder schlecht ist. Es ist keines von beiden – es ist nur unsere Reaktion auf die Lebensumstände, die uns entweder angenehme oder unangenehme Erfahrungen bringen. In Wirklichkeit ist das gesamte Karma eine Gelegenheit. Es ist einleuchtend, dass, wenn wir viele, viele Leben gelebt haben, es für einen einzelnen Menschen unmöglich ist, die volle Last aus seiner gesamten Vergangenheit in einer einzigen Inkarnation abzutragen. Die Natur ist durch und durch gerecht und passt die Last den Schultern an – ein Gesetz, das universal und mitleidsvoll arbeitet.

Das innere Karma, das aus der Göttlichkeit im Inneren kommt und durch unser Höheres Selbst arbeitet, beeinflusst unauffällig die gesamte Konstitution. Wenn das menschliche Selbst die Berührung dieser göttlichen Eingebungen spürt, tut man gut daran darauf zu achten und das äußere Karma so gut wie möglich mit dem inneren Karma in Einklang zu bringen. Wenn wir versuchen, unsere Persönlichkeit von dem strahlenden Glanz von oben zu isolieren, dann kommt es zu Spannungen und Konflikten.

Das Leben ist nicht immer eine einfache, gerade Linie der Pflicht – manchmal werden wir einigen schwierigen Entscheidungen gegenübergestellt, aber wenn wir zur Seite treten und sie aus der höheren Perspektive betrachten, können wir sicher sein, dass unser Höheres Selbst uns in Zeiten echter Not nie im Stich lassen wird. Wir sollten für die gütigen Impulse dankbar sein, die uns in neue Lebenslagen führen. Wenn das innere Karma mit dem äußeren in Konflikt zu kommen scheint, können wir das als ein Zeichen des Fortschritts betrachten, als ein Zeichen dafür, dass es für das persönliche Selbst notwendig ist, die Dinge von einem höheren Ausgangspunkt aus zu sehen. Das ist der Grund, warum wir die praktische Wichtigkeit betont haben sich zu bemühen, die tägliche Schrift unseres Lebens zu lesen, weil unser Höheres Selbst in Verbindung mit den natürlichen Angelegenheiten des täglichen Lebens versucht, uns auf Wege der Erfahrung zu führen, auf welchen die Seele an Stärke und Verständnis wachsen kann.

Wir haben die Verantwortung zu erkennen, dass jedes Karma eine Gelegenheit ist. Ich wiederhole es nochmals, weil es der wichtigste Schlüssel ist, um dem Leben ohne Verzweiflung entgegenzutreten, ganz gleich wie die Verhältnisse oder Situationen sein mögen. Die sogenannten angenehmen Situationen können sogar eine noch größere Herausforderung darstellen als die schwierigen: weise damit umzugehen, sie nicht nur als Belohnung für Gutes in der Vergangenheit zu betrachten, sondern vielmehr als ein Mittel, unseren Segen mit allen zu teilen. Ich spreche hier natürlich von spirituellen Werten.

Die unangenehmen Bedingungen stellen an sich schon eine große Gelegenheit dar, weil oft die schwierigsten Erfahrungen, die zuerst wie sehr bitteres Gift erschienen, sich am Ende als das „Wasser des Lebens“ erweisen. Das ist so, weil unser Schutzengel sieht, dass wir für seine Anweisungen zunehmend sensitiver werden. Er beginnt, uns stärker zu bedrängen und in Prüfungsperioden „zu treiben“. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass Leid und Mühsal, wenn wir ihnen mutig entgegentreten, uns nicht mehr erdrücken, weil unsere tapfere Haltung es dem inneren und dem äußeren Karma erlaubt, harmonisch zusammenzuwirken. Einfacher ausgedrückt, wir müssen lernen allen Umstände, die aus unserem Karma – aus uns selbst – fließen, zu begegnen und weise damit umzugehen, ohne an uns selbst zu denken.

Alles ist Karma, inneres und äußeres, höheres und niederes, spirituelles und physisches. Der Herr des inneren Karmas ist die Göttlichkeit im Innern, die im Kern unseres Wesens wohnt. Der Herr des äußeren Karmas ist Ihre und meine menschliche Persönlichkeit. Alles ist Bewusstsein; und unsere ganze Aufgabe, das Niedere durch das Höhere emporzuheben, besteht darin, selbstbewusst das unedle Metall unseres gewöhnlichen Bewusstseins in das Gold der inneren Göttlichkeit umzuwandeln.

Die karmischen Fäden sind fein gesponnen, und nicht einer geht in dem größeren Muster unserer Evolution verloren. Daher kann es letzten Endes nichts anderes geben als Gerechtigkeit; was nur die Herstellung des Gleichgewichts von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung, von Säen und Ernten ist. Warum, glauben Sie, haben alle großen Religionen und Philosophien diese eine Lehre betont: die Waagschalen des Schicksals ins Gleichgewicht zu bringen? Benutzten nicht die alten Griechen die Waage als Symbol der universalen Gerechtigkeit, der Ordnung und des Ausgleichs? – ein Symbol, das wir im Westen getreulich bewahrt haben. Betonten die Ägypter nicht auch diese Wahrheit in ihrer dramatischen Szene vom Totengericht, wie es in ihren Papyri und Tempeln dargestellt wird, das „Wiegen des Herzens gegen die Feder der Wahrheit“?

Alles in der Natur strebt zur Harmonie, es möchte vom Geringeren zum Größeren wachsen. Warum also sollte der Mensch eine Ausnahme bilden? Wenn Gerechtigkeit in den physischen Bereichen herrscht, warum nicht auch in den moralischen und spirituellen Regionen der Erfahrung?

Einige Fragen und Antworten

In Zusammenhang mit unserem Studium dieses tiefen und wunderbaren Themas werden wahrscheinlich viele Fragen auftauchen. Es wird zum Beispiel öfters gefragt, ob die Theosophie, die lehrt, dass es eine Himmelswelt gibt, nicht auch etwas über eine Hölle lehrt? Und wie steht es um das Fegefeuer, an das viele Menschen glauben?

Wenn man unter ‘Hölle’ einen Ort ewiger Strafe versteht, dann bestreitet die Theosophie diese beiden Vorstellungen nachdrücklich. In der Alten Weisheit gibt es keinen Platz für die unlogische und kindische Vorstellung der Strafe. Wir begegnen ausschließlich den Folgen unserer früheren Gedanken und Taten in diesem oder einem vorigen Leben – mit anderen Worten Karma. Niemand bürdet oder zwingt uns diese sich ergebenden Bedingungen auf. Sie folgen genauso natürlich aus unseren Taten, wie Wärme der Verbrennung oder die Furche dem Pflug folgt. Und um es noch einmal zu wiederholen: Kein einziger Existenzzustand oder Umstand kann ewig sein!

Unsere theologischen Vorstellungen über Himmel und Hölle sind jene mehr oder weniger entstellten Ideen, über die wir bereits gesprochen haben – jene verzerrten Überbleibsel alter Mysterienlehren, die am Beginn der christlichen Ära noch populär waren. Alle diese Missverständnisse setzten sich in jener Zeit im Denken der Menschheit fest, als sie in ein Zeitalter der spirituellen Trägheit eintrat, die ihren Höhepunkt im Mittelalter fand. Und die theologischen Lehren über die Hölle, wie sie in allen Religionen in der einen oder anderen Form zu finden sind, verkamen fast ausnahmslos zu völlig falschen Interpretationen der ursprünglichen Lehre, wie sie von den Gründern dieser Religionen vorgebracht worden waren. All diese Missverständnisse resultierten daraus, dass die Lehren nach dem Buchstaben aufgefasst wurden und nicht symbolisch und im übertragenen Sinne. Sie haben den menschlichen Herzen unsagbar viel Leid und Elend zugefügt. Die Worte ‘Himmel’ und ‘Hölle’ in ihrem wahren, mystischen Sinn haben als Teil der alten Mysterienlehren eine andere Bedeutung. Mit Himmel werden gemeint:

… jene spirituellen Erfahrungsreiche, durch die alle Monaden, welche auch immer, auf ihren zeitalterlangen Wanderungen zu einer beliebigen Zeit hindurchgehen sollen, ja hindurchgehen müssen, und in denen sie so lange verbleiben, wie es mit dem erreichten oder gewonnenen karmischen Verdienst in Einklang steht. Die sogenannten ‘Höllen’ sind jene Sphären oder Reiche der Reinigung, wohin alle Monaden, welche auch immer, während gewisser Perioden ihrer zeitalterlangen Wanderungen müssen, um dort die materiell beladenen und somit schwer belasteten Seelen zu reinigen, damit sie – sobald sie einmal gereinigt sind – sich wieder auf den aufsteigenden Bogen kosmischer Erfahrung erheben können.

The Esoteric Tradition, S. 551

Diese Erde wird tatsächlich von den Wesen, die vor langer Zeit ihre Materie beladenen Vehikel und Versuchungen überwunden haben, als eine Hölle besonders schmerzlicher Art betrachtet. So befreit die Theosophie, wenn sie den Ursprung dieser theologischen Missverständnisse erklärt, das menschliche Denken ein für alle Mal von ihrem erniedrigenden und grausamen Einfluss.

Natürlich gibt es in den weiten Reichen der Natur eine Bedingung oder einen Zustand des Seins, der das Gegenteil oder der niedere Pol zu jenen Stufen spiritueller Verwirklichung und Ruhe ist, die sich von Devachan bis zu den verschiedenen nirvāṇischen Stufen am Ende der größeren Evolutionsperiode erstrecken. Dieser anderer Seinszustand wird ‘Avīchi’ genannt, er besteht ebenfalls aus verschiedenen Abstufungen, welche mit den materiellen Neigungen der Wesenheiten übereinstimmen, die durch ihre eigenen schlechten Taten dorthin gezogen wurden. Diejenigen, die sich den Gefühlen des Hasses, der Rache, der Begierden oder Laster anderer Art hingeben, rutschen unvermeidlich auf die eine oder andere Weise in Avīchi ab, wozu auch die niederen Stufen von Kāma-Loka gehören. Die ‘Höllen’ oder niederen Ebenen von Kāma-Loka sind die direkten karmischen Folgen eines Nachgebens gegenüber jenen Eigenschaften, die den Menschen nach unten ziehen. Doch selbst dort sind die Folgen mitleidsvoll, denn diese ‘Höllen’ konfrontieren die dorthin gezogenen Wesenheiten mit den entsetzlichen Konsequenzen einer hemmungslosen Hingabe an das Böse. Auf diese Weise wird ihnen klargemacht, dass der Weg, der zu Avīchi führt, später vielleicht vermieden werden kann. Der Zustand hält glücklicherweise nur vorübergehend an und die Anzahl solcher unglücklichen Männer und Frauen ist verhältnismäßig gering.

Theologische Lehren über das Fegefeuer sind ebenfalls ein Beispiel dafür, wie durch Unwissenheit die Mysterienlehren der Alten Weisheit entstellt wurden, um den Zielen exoterischer Religionen zu dienen. Aus dem Vorigen kann leicht ersehen werden, wie es dazu kommen konnte. Die Alte Weisheit, die heute von der Theosophie vertreten wird, lehrt, dass der tatsächliche Zustand von Kāma-Loka – ausgenommen die seltenen Fällen von Selbstmördern und wirklich sehr schlechten Menschen – eine Reinigung in dem Sinne darstellt, dass sich die materiellen und selbstsüchtigen Elemente des Verstorbenen auflösen. Diese Reinigung erfolgt unbewusst und bringt wenig oder kein Leiden irgendeiner Art für gewöhnliche Menschen mit sich. Die ganzen Schreckgespenster der Theologie und des Aberglaubens werden von der Theosophie erklärt und dadurch ausgeräumt.

Ein anderer, öfter angesprochener Punkt bezieht sich auf die Möglichkeit, den Zeitraum zwischen zwei irdischen Leben zu verkürzen. Es gibt eine vielleicht überraschend große Anzahl von Männern und Frauen, die den Gedanken nicht ertragen können, dass sie Tausende von Jahren der Seligkeit genießen, während die Welt sich mühsam plagt, ohne dass sie etwas zu ihrer Hilfe und Erleichterung beitragen können. So betrachtet scheint der devachanische Zustand eigentlich selbstsüchtig. Dr. de Purucker antwortete auf eine ihm diesbezüglich gestellte Frage:

Wenn wir den Zustand von Devachan genau analysieren, müssen wir zu der Erkenntniss gelangen, dass er – wie schön er auch sein mag und wieviel Ruhe und Erholung er auch schenken mag, was bestimmt der Fall ist – trotzdem ein selbstsüchtiger Zustand ist. Wir können sagen, was wir wollen, Devachan ist im gegenwärtigen Stadium notwendig, weil es Ruhe bedeutet, Erholung und Frieden, und weil es die Aufarbeitung und die Assimilation der Erfahrungen des gerade beendeten Lebens bedeutet. All das mag so sein, es bleibt dennoch eine selbstsüchtige Existenz, denn in den Jahrhunderten, die wir in Devachan verbringen, träumen wir schöne Träume, und auch wenn der Welt das Schlimmste geschieht, stört uns das nicht. Nun, das ist nicht im Geiste der Buddhas des Mitleids. Liebe, unpersönliche Liebe, die alles umfasst – groß und klein – wird uns sogar von Devachan befreien. Es ist gerade dieser Geist der unpersönlichen Liebe, Liebe für alle Dinge, eine Sehnsucht, allen zu helfen und zur Seite zu stehen, die den wahren Kern der Buddhas des Mitleids bildet. … Es ist dieser Geist, der unser Devachan verkürzen wird und uns schnell auf dem Chelapfad voranbringen wird. Es ist der Geist, der unsere Älteren Brüder erfüllt, die Meister der Weisheit, des Mitleids und des Friedens. Sie haben kein Devachan. Sie sind darüber hinausgewachsen – zumindest die höheren unter ihnen.

The Theosophical Forum, Feb. 1933, S. 178

Ein ausgeprägtes, unpersönliches Verlangen, für die Menschheit zu leben, bildet eine Energie von außergewöhnlicher Kraft, wenn dies ein ganzes Leben lang durchgehalten wird – besonders wenn es nicht nur Sentimentalität ist, sondern die Form täglicher Selbstaufopferung im Denken und Handeln annimmt. Diese Energie ist stärker als alle anderen Energien, weil sie an der bewegenden Harmonie und Liebe teilhat, die aus dem Herzen des Universums hervorfließt, um alles, was ist, zu durchdringen. Sie wird ihren entsprechenden Ausdruck finden, indem sie die exkarnierte Wesenheit an jenen Ort zurückzieht, wo allein sich diese spirituelle Wunschenergie auswirken kann – Reinkarnation auf der Erde, in jeglicher Umgebung, in welcher eine solche humanitäre Aktivität möglich ist.

Das Vorhergehende führt zu einer oft gestellten Frage in Bezug auf die relative Wichtigkeit der beiden Zustände – das Leben auf der Erde und Devachan. Um es etwas zu vereinfachen, könnten wir fragen: Was ist wichtiger, essen oder verdauen? Das irdische Leben gewährt ein Ansammeln von Erfahrung und Devachan dessen Assimilation. Für die Durchschnittsmenschheit sind beide notwendig, das eine ergänzt das andere.

Aber der Mahatma, der Adept, der Meister des Lebens ist über Devachan hinausgewachsen. Er schreitet ohne Unterbrechung des Bewusstseins von Leben zu Leben und von Körper zu Körper. Wir dürfen jedoch die Tatsache nicht übersehen, dass er dabei für sich selbst die Notwendigkeit zu weiteren irdischen Erfahrungen überschritten hat. Er reinkarniert als Mensch, um sich dem spirituellen Wohlbefinden aller zu widmen. Um den Tod und die damit verbundenen Umstände zu überwinden, müssen wir erst den Durst nach Leben besiegen. Denn diese beiden – das Leben auf der Erde und das Leben in den inneren Welten jenseits des Todes – sind gegenwärtig die passende Art und Weise für die Evolution des Menschen. Erst wenn der Mensch das Bedürfnis für beide überwunden hat, kann er ein Mahatma werden – selbstbewusst unsterblich.

Aber der Tod wird sich sogar für den Durchschnittsmenschen verändern, denn der Mensch entwickelt sich natürlich unentwegt. Nicht nur unter dem Einfluss seines eigenen inneren Dranges, sondern auch mit der Hilfe einer Umgebung, die er zusammen mit seiner Familie, seiner Nation und seiner Rasse täglich erschafft, wird er aus dem Kern seines eigenen Wesens neue Kräfte und Fertigkeiten entwickeln, entfalten, entrollen. Und während er diese neuen Fertigkeiten entwickelt, wird er gleichzeitig solche Umstände hervorrufen, duch die er sie zum Ausdruck bringen kann. Das ist ein Teil der großartigen Aussicht, welche die Theosophie für die Zukunft der Menschheit bietet.

Gottfried de Purucker sagt uns:

In der Zukunft, wenn die Menschheit etwas weiter fortgeschritten sein wird als sie heute ist, wird man allgemein das Alter als den schönsten Zeitabschnitt des Erdenlebens ansehen, weil es der an intellektueller, psychischer und spiritueller Kraft reichste ist, und das wird so bleiben, bis auf die wenigen kurzen Stunden vor dem Eintreten des wirklichen physischen Todes.

The Esoteric Tradition, Band II, S. 813, Fußnote

Eine andere Sache, die wir zum Schluss ansprechen sollten, ist das neue Licht, das die Theosophie auf die gängigen unwissenschaftlichen Vorstellungen über die Unsterblichkeit wirft. Gottfried de Purucker brachte folgende Auffassung vor:

… die Menschen wissen nicht wirklich, was wahre Unsterblichkeit bedeutet. Sie glauben, sie bedeute unveränderliche Fortdauer der menschlichen Seele, wie sie jetzt ist – was für eine Hölle wäre das! Stellen wir uns vor, für immer und ewig das zu sein, was wir jetzt sind!

Die Lehre des Okkultismus ist das genaue Gegenteil davon. Seine Lehre erzählt von endlosem Wachstum, endloser Vervollkommnung, endloser Entwicklung, endloser Evolution und deshalb von endloser Veränderung des Bewusstseins, das immer höher steigt, aus der menschlichen Sphäre in die halbgöttliche, von den halbgöttlichen Welten in die göttlichen und danach in die übergöttlichen und so fort ad infinitum. Es gibt nirgends so etwas wie Unsterblichkeit, wie sie allgemein verstanden wird. Das einzige Unsterbliche ist das Universum selbst. Doch selbst das Universum ist durchaus nicht unsterblich, so wie es jetzt ist, denn es verändert sich fortwährend. Seine Essenz ist sein Leben, dessen wirklicher Kern Veränderung ist, die Wachstum bedeuted, welches Evolution hervorbringt.

Studies in Occult Philosophy, S. 382-3

Der springende Punkt im vorherigen Absatz liegt in den Worten „wie es jetzt ist“. Nichts existiert fortdauernd so, wie es jetzt ist. Es ist diese Tatsache, die oft so unlogisch und unwissenschaftlich von Theologen ignoriert wird und doch von der Natur selbst fortwährend unterstützt wird. Sie ist die Wurzel der modernen wissenschaftlichen Vorurteile gegenüber der Vorstellung von der Unsterblichkeit. Das Individuum bleibt bestehen, aber dieses Weiterbestehen ist nur durch Veränderung möglich. Wir sind unser Karma – wir sind zu dem geworden, wozu wir uns selbst gemacht haben. Was bleibt, ist das, was wir aus uns selbst machen, und in diesem Fortschritt oder Rückgang liegt unsere Zukunft. Kann man sich eine größere oder zwingendere Herausforderung für den gesunden Verstand und für das Beste und Stärkste und auch für das Reinste in der menschlichen Natur vorstellen? Selbst die schöne Ausdrucksweise ‘das Sterbliche zum Unsterblichen emporheben’ hat nur eine relative Gültigkeit. Denn die Monade selbst, zu der wir unser Bewusstsein zu verwandeln versuchen und die im Vergleich mit dem menschlichen Ego unsterblich ist, wächst und evolviert auf ihrer eigenen Ebene zu immer größeren und größeren Höhen.

Wir beenden diese Betrachtungen über den Tod mit folgenden Worten:

Wir werden den Tod und seine Mysterien so lange nicht vollständig verstehen, solange wir unsere Aufmerksamkeit auf den Körper konzentrieren, in den sich diese Flamme des Selbstbewusstseins hüllt. Folge dem Bewusstsein in dir, werde mit dir selbst vertraut, erkenne dich selbst besser, folge dieser Flamme des Bewusstseins im Inneren – immer weiter nach innen, was gleichzeitig aufwärts bedeutet; und dann wirst du den Tod nicht länger fürchten, sondern ihn als den süßesten, heiligsten Freund erkennen, den der Mensch hat; denn es bedeutet, Unvollkommenheit für Vollkommenheit aufzugeben, begrenztes Bewusstsein für eine erweiterte Bewusstseinssphäre. Folge jenem Bewusstseinsstrom unaufhörlich, und schließlich wirst du das Innere erreichen, das Zentrum des Seins, die Göttlichkeit im Herzen deines Selbst. Dort liegt das Geheimnis für das Verstehen des wahren Mysteriums vom Tod, wie es in den alten esoterischen Schulen aller Menschenrassen gelehrt wurde.

– G. DE PURUCKER: Lucifer, April 1934, S. 441-2

Vergesst nicht, dass ihr Kinder der Ewigkeit seid, jeder von euch, untrennbar mit dem grenzenlosen Universum verbunden, in dem wir alle leben, uns bewegen und unser Dasein haben. Vergesst nicht, dass von den allmächtigen Gesetzen der Natur wohl für euch gesorgt ist, die uns hierher brachten und die uns auf unseren Wegen unfehlbar leiten. Vertraut auf euch bis zum Tod; sterbt mit starkem und freudigem Willen. Sterbt glücklich, wenn eure Zeit kommt, habt keine Angst. Verhöhnt das Phantom des ‘Todes’ – verspottet das alte, verborgene Schreckgespenst angsterfüllter Vorstellungen der Unwissenheit, das in die Herzen und in das Denken der Menschen verwoben ist. Verhöhnt dieses Gespenst, dieses üble Produkt der Vorstellungskraft! Löscht es aus! Denkt daran, das wohl für euch gesorgt ist.

Questions We All Ask, Serie II, Nummer 19

Anhang

Anatomische Beweise für den ursprünglichen Charakter des menschlichen Stammes, entnommen aus Man in Evolution, Kapitel 7, S. 81 ff, von G.de Purucker, der diese Informationen hauptsächlich von Dr. Wood Jones übernahm, dem damaligen Professor für Anatomie an der Universität von Manchester:

(1) … Die Knochen des menschlichen Schädels sind an der Schädelbasis und an den Seiten der Gehirnkapsel in einer Weise verbunden, wie sie für primitive Säugetierformen charakteristisch ist; aber sie zeigen einen Gegensatz, einen sehr deutlichen Gegensatz, zur Anordnung der gleichen Knochen bei den Menschenaffen und den gewöhnlichen Affen. …

(2) Die Nasenknochen sind beim Menschen in ihrer Einfachheit außergewöhnlich primitiv. Im Fall der Affen und Menschenaffen kommen diese Tiere in dieser primitiven Einfachheit dem Menschen überhaupt nicht nahe, … .

(3) Der primitive Bau des menschlichen Schädels zeigt sich ebenso auch in einer Anzahl von Zügen des Gesichtes. Professor Wood Jones sagt in einer Abhandlung The Problem of Man’s Ancestry (S. 31):

Der Bau der Rückwand der Augenhöhle, die ‘metopische’ Naht, die Gestalt des Jochbeines, die Beschaffenheit des inneren pterigoiden (=Flügel) Gaumenknochens, die Zähne etc. – alles erzählt dieselbe Geschichte, nämlich dass der menschliche Schädel nach einem bemerkenswert primitiven Säugetiertypus gebaut ist, von dem sich bis zu einem gewissen Grad alle Affen und Menschenaffen entfernt haben.

(4) Der gleiche, in seinem Fach berühmte Anatom erklärt:

Das menschliche Skelett, besonders in seinen Variationen, zeigt genau den gleichen Zustand [eines primitiven einfachen Säugetiertypus].

(5) Ein anderes Zitat aus derselben Quelle:

Bezüglich der Muskeln zeichnet sich der Mensch wunderbar durch die Bewahrung primitiver Merkmale aus, die sich bei den übrigen Primaten verloren haben.

(6) Die menschliche Zunge ist ihrem Typus nach ebenfalls sehr primitiv. Die Zunge des Schimpansen gleicht der des Menschen in gewisser Hinsicht, jedoch ist die menschliche Zunge weit primitiver als diejenige irgendeines Affen oder Menschenaffen, … .

(7) Der Wurmfortsatz des Menschen ist dem des Marsupial oder Beuteltieres Australiens merkwürdig ähnlich. Aber er ist sehr verschieden von dem der Affen und Menschenaffen. …

(8) Die großen, aus dem Aortabogen entspringenden Arterien sind beim Menschen von der gleichen Zahl, von der gleichen Art und in der gleichen Anordnung gelagert wie bei … dem Ornithorhynchos anatinus, dem Schnabeltier Australiens.

(9) Die Premaxilla oder der Zwischenkieferknochen des Menschen, das heißt jener Knochen, der die oberen Schneidezähne trägt, ist beim Menschen kein getrennter Bestandteil mehr, wenn er je so existierte. Dagegen zeigt bei den Menschenaffen und den gewöhnlichen Affen sowie bei allen anderen Säugetieren dieser Zwischenkieferknochen an der Oberfläche Nahtlinien, die so seine Verbindung mit dem Oberkieferknochen andeuten.