9 – Abstieg in den Hades – Aufstieg in den Himmel

Aus dem Unwirklichen führe mich zum Wirklichen!
Aus der Finsternis führe mich zum Licht!
Aus dem Tode führe mich zur Unsterblichkeit!

Brihad-Āranyaka Upanishad, 1.3.28

Der Prozess, durch den die Sterblichen unsterblich werden, wurde früher überall in der Welt hoch geachtet. Die Menschen vergangener Kulturen glaubten, dass unser Bewusstsein, wenn es vom Körper befreit ist, vielfältige Bereiche der Erfahrung betritt, und auch an die Möglichkeit, die Reisen unserer Seele in der Nacht und nach dem Tod im Bewusstsein zu behalten. Man beschrieb diese Abenteuer in verschiedenen Erzählungen über Abstiege in den Hades und Aufstiege in den Himmel. Von Jesus wird uns erzählt, dass er in die Hölle abstieg, um die Menschen von ihren Ketten zu befreien, dass er am dritten Tag vom Tode auferstand und später zu seinem Vater auffuhr. Hiob ging auf seine Art ebenfalls durch die Hölle und triumphierte, gedemütigt, aber weiser. Arjuna, der Prinz der Pāndavas und Schüler von Krishna, wurde laut Indiens Mahābhārata durch die Tochter des Schlangenkönigs unter die Wasser von Pātāla gezogen. Das deutet auf eine Art Bewusstseinstransformation hin, denn Schlangen stehen weltweit als Symbol für diese fortgeschrittenen Menschen, welche die drei Welten bereisen und daran Anteil haben. Als Hüter der verborgenen Wahrheit geben sie Teile davon an vertrauenswürdige Individuen und Gemeinschaften weiter, um den Fortschritt der Menschheit zu unterstützen.

Eine interessante Version vom Abstieg in die Unterwelt wird in der KathaUpanishad erzählt. Die Episode beginnt damit, dass Naciketas, nachdem er beobachtet hatte, wie sein Vater fast alles, was er besaß, den Göttern opferte, erschreckt ausruft: „Mein Vater, wem wirst du mich verschenken?“ Der Vater, verärgert über diese Unterbrechung, rief: „Ich werde dich Yama geben“ (dem Totengott).

Naciketas war bestürzt, erinnerte sich aber daran, dass „der Sterbliche wie das Korn reift und vergeht und erneut geboren wird“, und ging zum Haus des Todes. Dort angekommen sah er, dass Yama fort war, und er wartete. Drei Tage später kam Yama zurück. Bekümmert darüber, dass der Junge so lange ohne Nahrung und Gastfreundlichkeit gewartet hatte, bot er ihm an, drei Wünsche äußern zu dürfen. Als erstes bat Naciketas um eine glückliche Heimkehr zu seinem Vater. Als zweites bat er darum, das Feueropfer verstehen zu können, wodurch die Himmelsbewohner Unsterblichkeit erlangen und befreit werden vom Leid und von der Furcht vor dem Alter.

Der dritte Wunsch wurde ihm nicht ohne weiteres gewährt. Als Naciketas darum bat, das Leben nach „dem großen Hinscheiden“ zu ergründen, erklärte Yama, dass ein so subtiles und heiliges Wissen den Sterblichen nicht enthüllt werden könne. Er bot ihm Reichtum an, Söhne und Enkel, Pferde, Elefanten, ein langes Leben, Ruhm – alles, was sein Herz begehrte. „Das alles schenke ich dir, oh Naciketas, aber frage nicht nach dem Tod.“ Da der Jüngling einen flüchtigen Blick in das Jenseits geworfen hatte, wollte er nichts Geringeres haben als „die Belohnung, in das Mysterium einzudringen“. Schließlich gab Yama nach und enthüllte seltsame und wunderbare Wahrheiten, wobei er hinzufügte, dass man, um unsterblich zu werden, weltliche Gedanken und Wünsche aufgeben und sein Herz Ātman, dem Höchsten Selbst, öffnen müsse.

Was ist Ātman, das Höchste Selbst? Es ist die spirituelle Essenz in jedem einzelnen Menschen, das, was den Tod der physischen Formen und die Transformationen überlebt. Es ist höher als das Denkprinzip; es steht über dem spirituellen Verstehen, es ist das – wenn es jemand mit seinem Herzen und mit seinen Gedanken erkennt –, was ihn befähigt, sowohl das, was gesehen, als auch das, was nicht gesehen werden kann, zu begreifen. Wer das Selbst erkennt, erklärte Yama, wird unsterblich.

Die Zusicherung, dass wir unsere Sterblichkeit überschreiten und bewusst an den Dimensionen jenseits des Physischen teilhaben können, wird durch vergleichbare Erzählungen in anderen Überlieferungen bestätigt. Die alten Perser berichten von einem jungen Priester, Ardai Viraf, der die unsichtbaren Bereiche betrat, „um die Intelligenz der Geister zu erlangen“, die ihre Religion wiederherstellen würde. Während sein Körper schlief, stieg sein Geist auf und erblickte höchst bemerkenswerte Wunder. Später erzählte er davon und schilderte das Schicksal der verschiedenen Seelen: Jene, die im Leben anderen Gutes getan hatten, genießen nach dem Tod die herrlichsten Freuden; aber diejenigen, die selbstsüchtig und grausam gewesen waren, erleiden Qualen, die zu schrecklich sind, um sie sich vorzustellen. Er sprach auch von den Geheimnissen, die er von den Regenten der verschiedenen planetarischen „Stationen“ erfahren hatte. Jeder von ihnen hatte ihm die Gesetze und Bedingungen der Systeme und Sphären, über die er herrschte, erklärt.

Die griechisch-ägyptische „Vision von Hermes“ bietet ähnliche Lehren und erzählt, wie der jugendliche Hermes „höchst wunderbares“ Wissen erlangte. Als er einen Abgrund betrat, wurde er „von schrecklicher Dunkelheit eingehüllt“ und dann, „beim Aufstieg in die weiteren Regionen darüber“, war er Zeuge der leuchtenden Geburt und Entfaltung von Welten. Er beobachtete unter anderem den Ab- und Aufstieg der Seelen, während sie in den sieben Sphären der Planeten ihre Erfahrungen machten.

Diese Berichte bestätigen unser intuitives Empfinden, dass das Leben nach dem Tod weitergeht. Sie machen sowohl die heutigen Berichte über die Nahtod-Erfahrungen als auch theosophische Lehren glaubhaft, welche besagen, dass wir von Kräften, Substanzen, Intelligenzen und Regionen umgeben sind, die, wie Yama dem Naciketas erzählte, mit sterblichen Augen „nicht gesehen werden können“.

Dichter und Priester haben diese Regionen mit Engeln und Dämonen bevölkert, während philosophische Schriften Einzelheiten über deren hierarchischen Struktur liefern. Frühchristliche Lehren beschreiben die vielen „Kreise“ der Hölle oder der „Infernos“ (Höllen) als Stufen des Fegefeuers und Regionen des „Himmels“. Die Hindu nennen die abgestuften Regionen Lokas und Talas, die bipolaren, sich durchdringenden Sphären und Zustände des Bewusstseins, an denen wir auch jetzt teilhaben.

Viele Traditionen deuten an, dass alle Lebewesen periodisch in die materiellen Reiche „absteigen“, um ihre Qualitäten und Talente in vollem Umfang zu entfalten und zu entwickeln. Interessanterweise ist die Erde – die wegen der dort zu erfahrenden Leiden als Gegenpol (oder Hölle) bezeichnet wird –, der Ort, an welchem die Seelen erwachen und anfangen, ihre mentalen und spirituellen Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen, die sie in die Lage versetzen, selbstbewusst aufwärts fortzuschreiten. Schließlich, nach Zeitaltern der Prüfung und der Anstrengung, werden sie sich des höchsten Selbst voll bewusst und eins mit ihm und erreichen Unsterblichkeit – die Belohnung, die Naciketas in Yamas Reich suchte.

Diese Ideen waren den Assyrern und Babyloniern vertraut, deren große Mutter, die Göttin Ishtar, die Unterwelt betrat und auf jeder Stufe des Abstiegs einen Teil ihres Schmucks oder ihrer Kleidung zurückließ. Diese Ideen wurden von den Ägyptern symbolisch in der Geschichte von Isis dargestellt, die in die Unterwelt abstieg, um den zerstückelten Leib ihres Gatten Osiris – des Sonnengotts – zurückzugewinnen und wieder zusammenzufügen. Griechen und Römer verewigten dieses Thema in den Erzählungen von Odysseus in der Begegnung mit den Schatten aus dem Haus des Hades; von Kupido und Psyche; von Demeter, die ihre Tochter Persephone aus dem Reich des Todes befreite; und von Orpheus, dessen Bemühungen, seine geliebte Eurydike zurückzugewinnen, fehlschlugen. Als er sie nach oben zum Licht führte, blickte er zurück – die Mahnung des Gottes vergessend – und verlor, was er am meisten liebte.

Herkules bewältigte ebenfalls den gefahrvollen Abstieg. Als Teil seiner zwölften und letzten Aufgabe überwand er Cerberus, den dreiköpfigen Hund, der die Pforten zum Hades bewacht, und befreite auf seiner Reise Prometheus, den Wohltäter der Menschheit. Seine Fähigkeit, in solchen Prüfungen zu siegen, brachte ihm einen Platz unter den Unsterblichen des Olymp ein – wobei Unsterblichkeit hier nicht bedeutet, dass man niemals stirbt, sondern dass das Bewusstsein während der Transformationen beibehalten wird.

Die Bedeutung dieser metaphorischen Ab- und Aufstiegserzählung kann im Zusammenhang mit folgenden Gebieten erforscht werden: 1. Mit einer tiefenpsychologischen Untersuchung, 2. mit einer wissenschaftlich-philosophischen Interpretation des evolutionären „Falls“ und der „Auferstehung“ der Menschheit, 3. im Hinblick auf Initiationsprüfungen, in welchen die Kandidaten durch wirkliche Erfahrung Kenntnisse von den unsichtbaren Naturreichen erlangen, und 4. in Bezug auf die periodischen Inkarnationen von Avatāras, Christussen und Buddhas.

Psychologische Ab- und Aufstiege sind uns bekannt: Wer von uns kennt nicht die Empfindung einer Art spiritueller Erhebung, wenn er ein Missgeschick überwunden hat; wer von uns wurde nicht schon von den Wellen des Schmerzes und der Niedergeschlagenheit „erdrückt“ oder von bewussten und unbewussten Leidenschaften und Ängsten gefangen gehalten? Das sind die furchterregenden Ungeheuer der Unterwelt. Die Hierophanten des Altertums und heutige Psychologen helfen ihren Schülern und Patienten, sie zu verstehen, ihnen dann entgegenzutreten und sie zu transzendieren. Dass wir freier, weiser und psychologisch stark genug werden, um auf den höheren Ebenen des Bewusstseins zu wirken, geschieht aufgrund der Verwandlung der Kräfte, die unser Leben ständig ins Chaos führen, zum Guten.

Wissenschaftlich-philosophische Interpretationen befassen sich mit dem astronomisch-landwirtschaftlichen Zyklus. Dieser Zyklus, dessen Muster der jährliche Durchgang der Sonne durch die zwölf Monate oder durch die Tierkreiszeichen ist, erreicht seinen Höhepunkt zur Wintersonnenwende. Die Sonne (oder der menschliche Initiand) ist von ihrer siderischen Höhe der Sommerzeit „herabgestiegen“, betritt nun den unterirdischen Gegenpol (Hades, Pātāla) und bleibt vom 21. oder 22. Dezember an drei Tage und Nächte lang im Hause des Todes gefangen. Danach erhebt sie sich neugeboren als Sol Invictus, die „Unbesiegbare Sonne“, bringt Gaben mit sich, welche die Welt verjüngen. Die Geschenke der Weihnachts- und Neujahrszeit stellen sowohl die Samen dar, die befruchtet im Schoß der Natur eine reiche Ernte sichern, als auch die spirituellen Lehren, welche unsere Seele bereichern und zu neuem Leben erwecken.

Wenn gute Samen, gute Gedanken und Handlungen gesät werden, wird mit dem Initiationszyklus sichergestellt, dass der Charakter verfeinert und die spirituellen Möglichkeiten entwickelt werden. Um das zu erreichen sind Jahre (vielleicht Lebenszeiten) intensiver Instruktion, Selbstdisziplin und Läuterung unbedingt erforderlich. Andernfalls verstricken wir uns, wie Orpheus, in Illusionen aus der Vergangenheit. Erfolg kommt durch Unpersönlichkeit und Loslassen. Wenn der Aspirant darüber verfügt, macht er den gefahrvollen Abstieg sicher und steigt auf in die himmlischen Regionen, aus denen er, laut Cicero, „eine erweiterte Betrachtung des Lebens und eine lebendigere Hoffnung in Bezug auf den Tod mitbringt“.

Die inspirierendste Interpretation vom Auf- und Abstieg ist mit dem Kommen großer Lehrer verbunden. Mitleidsvolle, hoch evolvierte Seelen antworten auf die Rufe der leidenden Welt und „steigen herab“ zu dem, was für sie eine Hölle darstellt. Sie arbeiten auf jede mögliche Weise, um Licht zu bringen sowie Befreiung aus den Fesseln von Unwissenheit und Angst. Die Liebe und das Licht von Jesus haben zweitausend Jahre lang die Gläubigen inspiriert, während im Osten Buddha und die geliebte Kwan Yin entsprechende Verkörperungen des Mitleids und der Liebe sind. Als Reaktion auf das vor Zeitaltern gegebene Versprechen, allen fühlenden Wesen Erleuchtung zu bringen, unterstützen sie die Welt auf „abertausendfache Art“.

Wenn man über diese verschiedenen Geschichten vom Ab- und Aufstieg nachdenkt, gelangt man zu der Überzeugung, dass ein Teil unserer Natur sogar jetzt in unsichtbaren Welten über und unter uns lebt. Somit können wir in dem Maß ein Teil unseres Höheren Selbst sein und eins mit ihm werden, wie wir unsere Aufmerksamkeit vom Persönlichen und Materiellen zum Unpersönlichen und Spirituellen transformieren. Wenn wir das tun, entfalten sich allmählich höhere Fähigkeiten, bis wir eines Tages die höchst erstaunlichen Wunder „sehen“, die Naciketas, Hermes, Herkules und anderen enthüllt wurden. Wenn das geschieht, dann werden wir, wie sie, frei von der Angst vor dem Sterben und imstande sein, aus diesen unsichtbaren Bereichen Erkenntnisse mitzubringen, die das Leben auf der Erde glücklich und das Danach durch „Hoffnung heller und schöner machen“.

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Die Kraft der Göttlichkeit im Innern und die besten und edelsten Dinge, nach denen wir gestrebt und die wir vergessen haben, bleiben ungeachtet all unserer Fehler ein Licht, um unseren Pfad in die Ewigkeiten zu beleuchten.

Tod und Wiedergeburt

Es ist kaum möglich, sich ein Weiterleben nach dem Tod vorzustellen, ohne auch nur an Prä-Existenz und Wiedergeburt zu denken, denn wenn man annimmt, dass etwas kein Ende hat, so muss man auch annehmen, dass es keinen Anfang hat. In einem logischen Gedankensystem müssen wir nicht nur beschreiben und erklären, was nach dem Tod passiert, sondern auch, was vor der Geburt stattfindet.

Und genau hier ist es auch interessant, die unmittelbaren Ursachen für die Reinkarnation des Egos zu untersuchen. Wiederverkörperung ist natürlich ein ‘Gesetz’, das heißt eine universale Gewohnheit der Natur. Alles im Universum verkörpert sich wieder – ein Elektron, ein Atom, ein Mineral, eine Pflanze – das heißt, die Monaden, die durch diese Formen evolvieren, müssen sich wiederverkörpern. Dasselbe trifft auf ein Tier, einen Menschen, einen Planeten, eine Sonne, ein Sonnensystem, ein Universum zu – nichts kann seinem essentiellen Schicksal der Evolution oder Entfaltung seiner inneren Natur und Kräfte durch Wiederverkörperung, stetig fortschreitende Organisation und sich verändernde Lebensumstände entgehen. Selbstverständlich nimmt auch das menschliche Ego an dieser universalen Gewohnheit der Selbstentfaltung teil.

Aber was uns jetzt vor allem interessiert, sind die unmittelbaren Ursachen, welche die Reinkarnation auf der Erde bewirken, und die Arbeitsweise, die in diesem Prozess befolgt wird. Die Monade, das spirituelle Selbst, vollbringt ihre Wanderungen durch die sieben heiligen Planeten mit dem reinkarnierenden Ego ‘schlafend in ihrem Schoße’. Aber wie immer in der Natur muss das, was ruht oder schläft, erwachen und aufs Neue seine selbstbewusste Aktivität mit dem Ziel aufnehmen, seine eigene Evolution fortzusetzen.

So erreicht schließlich das reinkarnierende Ego allmählich das Ende seiner Periode der devachanischen spirituellen Assimilation. Undeutliche, aber unwiderstehliche Erinnerungen an seine früheren Erdenleben lassen es aus seinem glücklichen Schlaf erwachen. Alle Prozesse in der Natur sind so harmonisch, flexibel und selbstregulierend, dass die Monade ihre Wanderungen durch die inneren und äußeren Runden zu der Zeit vollendet, in der auch das reinkarnierende Ego das Ende seiner Traum-Ruhe in der monadischen Essenz erreicht.

Wie also klar sein dürfte, hat infolgedessen ein Ego, ob es ein langes oder im Gegenteil ein kurzes Devachan hat, in keinem Falle irgendwelche Schwierigkeiten. Denn die spirituelle Monade wird mehr oder weniger stark von der spirituellen Beschaffenheit oder Qualität des sich wiederverkörpernden Ego, welches es in seinem Schoße trägt, beeinflusst. So kommt es, dass die Pilgerfahrt der spirituellen Monade hinsichtlich der Zeit, welche die interplanetarische Pilgerfahrt in Anspruch nimmt, bis zu einem gewissen, oftmals sogar hohen Maß gesteuert wird.

The Esoteric Tradition, S. 885

Das reinkarnierende Ego wird deshalb allmählich ‘herunter’ oder ‘nach außen’ geführt – durch die unsichtbaren interplanetarischen Sphären, bis es wieder beginnt, sich der Schwelle des irdischen Lebens zu nähern. Hier sendet es aus sich selbst eine manasische Strahlung oder einen Strahl. Die Anwesenheit dieses Strahls hat eine dynamische Wirkung auf all jene Energiezentren, die zurückgelassen wurden, als es das letzte Mal durch die Tore des Todes hier auf der Erde ging. Die Lebensatome, aus denen diese Energiezentren oder Prinzipien oder Elemente bestehen, beginnen dann, sich um den manasischen Strahl wie um einen Kern zu kristallisieren. Wie bereits gesagt, gibt es vier solcher Prinzipien oder Elemente, und sie bilden die niedere Vierheit oder das niedere Selbst, welches das Ego in seinem letzten Leben als Vehikel benutzte. Es sind: Kāma, die Begierde; Prāṇa, das Lebensprinzip oder die Vitalität; der Astral- oder Modellkörper, der Liṅga-Śarīra; und die physische Hülle oder der Śthūla-Śarīra. Sobald diese vier Prinzipien wieder damit beginnen, rund um den manasischen Strahl eine Form zu bilden, tritt die Persönlichkeit – Kāma-Manas – wieder in ihre irdische Existenz ein.

Das Ende dieses Prozesses wird folgendermaßen umschrieben:

Schließlich erreicht der Strahl oder die Strahlung des sich wiederverkörpernden Egos den kritischen Punkt oder jene Stufe seines ‘Abstiegs’, auf der er zu der besonderen, bestimmten menschlichen Keimzelle hingezogen oder von ihr angezogen wird, deren Wachstum – wenn es nicht unterbrochen wird – in einen physischen Körper mündet. Die psycho-magnetischen Anziehungskräfte und inneren Impulse des sich wiederverkörpernden Egos haben es … karmisch zu der Zelle hingeführt, die unter einer Anzahl anderer möglicher Zellen die geeignetste ist, Vater und Mutter zu ihrer Zeit zu vereinigen, um das zu geben, was man bildhaft vielleicht die magische Verbindung vereinigten ‘Lebens’ nennen könnte. …

Von diesem Augenblick an beginnt das lebende Protoplasma von innen nach außen zu wachsen und nach und nach das, was in ihm aufgespeichert ist, zur Manifestation zu bringen.

– Ebenda, S. 888

Das Ego wird gewöhnlich zu jener Familie und dem sozialen Umfeld hingezogen, in welchem es beim letzten Tod seines physischen Körpers seine Lasten, Probleme und Verwandten zurückgelassen hat. Nähere Details zu diesem Thema finden sich in einem anderen Büchlein dieser Reihe: Karma und Reinkarnation.

Das Studium des Todes und der nachtodlichen Zustände von Bewusstsein und Erfahrung ist für jeden von größter Bedeutung – und zwar unter anderem aus folgenden Gründen:

(1) Das Studium lehrt uns, wie die Kluft überbrückt werden kann, die nur offenbar wird – zwischen uns selbst und denen, die wir lieben, sobald sie in die unsichtbaren Welten hinübergegangen sind. Und das nimmt dem Tod den Stachel.

(2) Es löst die Furcht vor dem Tod in unserem Herzen und inspiriert uns zu einer großen Hoffnung und zu einem Sinn des Lebens, damit wir das Heute so gestalten, dass der morgige Tod gut sein wird.

(3) Wir können den Tod nicht verstehen, ohne die Geheimnisse unserer eigenen Natur kennenzulernen. Ihr Studium und ihre Bemeisterung wird zu einer Erneuerung des gesamten Lebens sowohl hier als auch im Jenseits führen.

Die Theosophie bietet uns ein Bild von der Gesamtheit vieler Prozesse in der Natur, welche die Wissenschaft heute nur als Halbwahrheiten ansieht. Dazu gehören die Schwerkraft und die Evolution, wie H. P. Blavatsky in The Secret Doctrine erklärt. Die Wissenschaft betrachtet das Leben des Menschen zum Beispiel als eine gerade Linie, als ein Fragment, während es ein infinitesimaler Teil eines mächtigen Kreises ist, der sich in wechselnden Graden von Licht und Schatten emporwindet – eine gewaltige spirituelle Spirale. Sie tendiert aufwärts, immer langsam nach oben, und führt den Menschen aus den dunklen Schatten eines einzelnen Erdenlebens hin zum leuchtenden Bogen der Periode zwischen zwei Leben; und dann wieder zu einem nächsten Schatten-Abschnitt irdischer Existenz und so weiter, immer noch allmählich emporsteigend, bis das Ziel schließlich erreicht ist.

Wenn wir vom Ziel oder ‘Ende’ des Evolutionsprozesses sprechen, von dem das Leben auf dieser Erde ein Abschnitt ist – mit dem Tod als dem einen und dem Zeitraum danach als dem anderen –, bedeutet dieses Ziel auch nur ein relatives Ende. Es ist nicht mehr als eine Haltestelle, eine Periode der Ruhe und spirituellen Assimilation einer höheren Art.

Wir haben jetzt ein einigermaßen detailliertes Bild darüber, was der Tod wirklich bedeutet und über seinen Platz in der Evolution des Menschen. Es könnte hilfreich sein, die diesen Prozess betreffenden Stadien kurz zusammenzufassen, welche das menschliche Bewusstsein durchläuft, wenn das spirituelle Selbst durch den Tod befreit wird. Diese sind:

1. Der ‘Tod’ an sich oder das Abwerfen, der Zerfall des physischen Körpers, verursacht durch die Durchtrennung des Bindeglieds zwischen dem spirituellen Selbst und seinen niederen Prinzipien. Der astrale Modellkörper oder Liṅga-Śarīra löst sich jetzt auch auf – ein Prozess, der in hohem Maße durch die Verbrennung des physischen Körpers beschleunigt wird.

2. Die Rückschau des reinkarnierenden Egos auf die Geschehnisse des gerade beendeten Lebens. Das ist ein sehr wichtiger und feierlicher Teil des Prozesses, in dem das Ego jeden Gedanken und jede Tat seines Lebens betrachtet und deutlich die Gerechtigkeit und Bedeutung der Ereignisse des Lebens erkennt. In der unmittelbar auf den Tod folgenden Zeit sollte um den Verstorbenen vollständige und ehrfürchtige Stille herrschen, so dass kein Hauch einer Störung aus der äußeren Ebene das notwendige und heilige Geschehen unterbrechen kann.

3. Das Einschlafen der menschlichen Persönlichkeit oder des menschlichen Bewusstseins, während die beiden folgenden Prozesse stattfinden.

4. Die Auflösung des Kāma-Rūpa, wenn er nicht durch Einmischung eines Mediums am Leben gehalten wird.

5. Der zweite Tod, bei dem die spirituelle Essenz der Persönlichkeit durch das Ego absorbiert wird. Die beiden letzten Prozesse sind dem gewöhnlichen Menschen nicht bewusst.

6. Der Übergang des reinkarnierenden Egos in seine devachanische Ruhe im Schoße des spirituellen Selbst oder der Monade.

7. Die Wanderungen oder die kosmischen Reisen der Monade oder des spirituellen Selbst während seines ‘Göttlichen Abenteuers’, wobei es das reinkarnierende Ego in seinem Schoße bei sich trägt.

8. Das Wiedererwachen des reinkarnierenden Egos für die Anziehung des Erdenlebens und sein Abstieg zur Reinkarnation in eine neue Persönlichkeit.

Schluss

Wir haben nunmehr einen Eindruck von den Hauptzügen dieses umfangreichen Themas vermittelt; und haben versucht, die Gesetze aufzuzeigen, die im Universum Veränderung und Wachstum überwachen – nicht nur im materiellen Universum, sondern auch in all den unsichtbaren Ebenen, die sich auf Geist und Denken beziehen. Die Evolution ist ein bewusstes, zielgerichtetes Geschehen; und sie ist das Werk von Lebewesen. In letzter Instanz besteht das Universum ausschließlich aus Lebewesen, die alle wachsen und evolvieren. Solch eine Vision macht unvermeidlich den gesamten Prozess außergewöhnlich kompliziert; ihn vollständig zu verstehen, übersteigt momentan unser Fassungsvermögen. Der kluge Schüler sollte sich dadurch nicht entmutigen lassen, denn er ist sich bewusst, dass die Entwicklung seiner eigenen Fähigkeiten ein allmählicher Vorgang ist. Das Wissen um die unbegrenzten Möglichkeiten seiner Evolution gibt ihm die Sicherheit, dass das, was heute im Dunkeln liegt, morgen vielleicht verstanden wird.