1 – Was ist Theosophie?

Es gibt eine Weisheitstradition, die einst universal bei jedem Volk auf dem Antlitz des Globus bekannt war – einen gemeinsamen Schatz der Inspiration und Wahrheit, aus dem die Erlöser und Wohltäter der Menschheit schöpften. In verschiedenen Epochen unterschiedlich bekannt als immerwährende Philosophie, als die Gnosis des griechischen und frühen christlichen Denkens, als esoterische Tradition oder die Mysterienlehren des Heiligtums – ist es diese Gottes-Weisheit, die Jesus mit dem Fischervolk Galiäas teilte; die Gautama dem Fährmann und Prinzen erteilte; und die Plato in Briefen und Dialogen, in Fabeln und Mythen unsterblich machte. Heute wird die moderne Darstellung dieser Weisheit Theosophie genannt.

Was ist Theosophie? Das Wort ist griechischen Ursprungs, von Theos, „Gott“, und Sophia, „Weisheit“, mit der Bedeutung: „Die göttlichen Dinge betreffende Weisheit“. Der Begriff hat eine ehrwürdige Geschichte. Er wurde von den neuplatonischen und christlichen Schriftstellern vom 3. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. benutzt und ebenso von den Kabbalisten und Gnostikern – in dem Versuch zu beschreiben, wie das Eine zu den vielen wird, wie das Göttliche oder Gott sich in einer Reihe von Emanationen durch alle Naturreiche manifestiert. Das Wort Theosophie wurde während des Mittelalters und der Renaissance gebraucht, und Jakob Böhme wurde wegen seiner Vision des Menschen als Mikrotheos und Mikrokosmos der teutonische Theosoph genannt.

Das Wort Theosophia wird auch mit Ammonius Sakkas von Alexandria in Verbindung gebracht, der seinen Schülern im 3. Jahrhundert n. Chr. ein theosophisches System oder eine Schule des Denkens enthüllt haben soll in einem Versuch, die scheinbar voneinander abweichenden Elemente der archaischen, damals gängigen Weisheit in dieser von Menschen wimmelnden Metropole zu einer universalen Synthese zu verschmelzen. Er hatte einen vorbildlichen Charakter und wurde aufgrund seiner göttlichen Inspirationen, die er erhielt, theodidaktos, „von Gott unterwiesen“, genannt. Ammonius forderte strengste Moralität, und obwohl von seinen Lehren und Praktiken keine Aufzeichnungen gemacht wurden, zeichnete sein Schüler Plotin vorausschauend für die Nachwelt die herausragenden Lehren seines Meisters auf. So haben wir die Enneaden oder „Neun“ Bücher des Neuplatonismus, welche während der folgenden Jahrhunderte einen tiefen Einfluss ausübten.

In Europa verfolgten später die Kabbalisten, Alchimisten, die frühen Rosenkreuzer und Freimaurer, die Feuerphilosophen, Theosophen und andere dieselben Ziele. Einzeln und in Geheimbünden erklärten sie, dass das Eine, das Göttliche, das undefinierbare Prinzip aus sich selbst das gesamte Universum emanierte und dass alle Wesen und die in ihm enthaltenen Dinge schließlich zu jener Quelle zurückkehren. Im Besonderen versuchten sie, der Christenheit in ihren Tagen die spirituelle Wahrheit einzuflößen, dass die mystische Einheit mit dem Göttlichen das Geburtsrecht aller ist, weil in jedem Menschen ein göttlicher Kern existiert.

Somit ist klar, dass das theosophische Streben, seine Lehren und seine Praxis keine neue Bewegung darstellt. Es ist zeitlos und wurzelt in der Unendlichkeit der Vergangenheit genauso fest, wie es in der Unendlichkeit künftiger Äonen verwurzelt sein wird. Die Theosophie hat kein Glaubensbekenntnis, kein Dogma, keine Glaubenssätze, die akzeptiert werden müssen, weil die Wahrheit nicht etwas jenseits oder außerhalb von uns ist, sondern tatsächlich innen ist. Nichtsdestoweniger umfasst sie eine zusammenhängende Gruppe von Lehren über den Menschen und die Natur, die auf verschiedene Arten in den heiligen Traditionen der Welt zum Ausdruck gebracht wurden.

Die moderne theosophische Bewegung begann im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts – eine Intervention zum richtigen Zeitpunkt, denn die vorhergehenden Jahrzehnte wurden Zeuge eines radikalen Umbruchs im spirituellen und intellektuellen Denken. Das Weltbewusstsein war reif für eine Veränderung: Auf der einen Seite hatte der zügellose Materialismus sowohl in der Theologie als auch in der Wissenschaft das unabhängige Forschen im Würgegriff, und auf der anderen Seite wurden viele Menschen, die danach hungerten an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, von der Schimäre spiritualistischer Phänomene in die Irre geführt. Eine kosmische Vision des Menschen und seiner Rolle im Universum war dringend notwendig – eine Vision, die das Vertrauen in das göttliche Gesetz wiederherstellen und eine sinnvolle Erklärung der scheinbar grausamen Ungerechtigkeiten der irdischen Existenz bieten würde.

H. P. Blavatsky, eine Frau mit außerordentlichen Gaben, angetrieben von ihrer furchtlosen Hingabe für die Wahrheit und die Ausrottung der Ursachen menschlichen Leids, wurde die leitende Vertreterin der modernen theosophischen Bewegung. Sie gehörte zu der langen Reihe von ‘Übermittlern’ der universalen Gott-Weisheit und streute elektrifizierende Gedanken, innovative Ideen – Ideen, welche das Denken der Menschheit revolutionieren sollten, in die Gedankenatmosphäre der Welt. Der Hauptgedanke war, dass wir eine Einheit sind. Sie ermutigte die Untersuchung und das Studium des spirituellen Erbes aller Völker, um die Täuschung auszurotten, irgendeine Rasse oder ein Volk wäre das ‘Auserwählte’, hätte die einzige wahre Religion und den einzigen Gott. Sogar eine flüchtige Prüfung anderer Glaubenssysteme erweitert unseren Horizont. Es ist eine spannende Erfahrung, den gleichen goldenen Faden zu erkennen, der jede Tradition durchzieht – ob eine religiöse, philosophische oder sogenannte primitive; wir empfinden sofort Sympathie, eine Empathie mit allen, die diese Wahrheiten besitzen und hegen. Allein das führt zu einer Einheit, zu einem Gefühl des Verständnisses, zu einer Verknüpfung des Schicksals.

Jeder Mensch ist eine Miniatur-Kopie dessen, was die Sonnen und Sterne sind – in Tempeln aus Materie wohnende lebendige Gottheiten. Wir haben eine ebenso lange Pilgerfahrt hinter uns wie vor uns: eine Vergangenheit, erfüllt von langen Erfahrungszyklen, welche die Seele für ihren gegenwärtigen Status reifen ließen, und eine Zukunft mit unbegrenzten Möglichkeiten, während der wir aus unserem Menschsein zum vollkommenen Glanz der Göttlichkeit evolvieren werden. HPB erhebt keinen Anspruch, die Urheberin dieser Lehren zu sein; sie war vielmehr eine Übermittlerin in einer gegenwärtigen Sprache für eine „ausgewählte Anzahl von Fragmenten“ der esoterischen Aufzeichnungen.

HPB lädt uns zu einer Betrachtung einiger „fundamentaler Grundsätze ein, die dem gesamten Gedankensystem zugrunde liegen“ (The Secret Doctrine, 1:13; Die Geheimlehre 1:42), auf welchen die heilige Wissenschaft des Altertums und der religiösen und philosophischen Schulen der Welt gründen. Auf das Essenzielle reduziert besagen sie:

1.) Dass ein ewiges, allgegenwärtiges, unveränderliches Prinzip existiert, das nicht definiert werden kann, da es „jenseits des Raumes und der Reichweite des Gedankens“ ist, und doch emaniert oder fließt aus Ihm alles Leben hervor. Die Theosophie hat für dieses Prinzip keinen Namen, außer es als JENES zu bezeichnen – das Unendliche, Unerschaffene, die wurzellose Wurzel, die ursachlose Ursache. Diese Formulierungen stellen nur den Versuch dar, das Unbeschreibliche zu beschreiben – die Unendlichkeit der Unendlichkeiten, die grenzenlose Essenz des Göttlichen, die wir nicht definieren können. Kurz gesagt – jene wunderbare ursprüngliche Essenz, welche die Genesis als die Finsternis über der Urflut bezeichnet – jene Finsternis, die zu Licht entfacht wurde, als die ‘Elohīm auf die Wasser’ des Raumes atmeten.

2.) Dass Universen gleich sich „manifestierenden Sternen“ in Gezeiten von Ebbe und Flut erscheinen und vergehen – ein rhythmisches Pulsieren von Geist und Materie, wobei jeder Lebensfunke im Kosmos – von den Sternen bis zu den Atomen – dem gleichen zyklischen Muster folgt. Geburt und Tod existieren kontinuierlich, ein Erscheinen und Verschwinden dieser „Funken der Ewigkeit“, da der Rhythmus des Lebens stets neue Lebensformen für zurückkehrende Welten hervorbringt: Galaxien und Sonnen, Menschen, Tiere, Pflanzen und Mineralien. Alle Wesen und Dinge haben ihre Geburts- und Sterbezyklen, weil Geburt und Tod die Tore des Lebens darstellen.

3.) Dass es für alle Seelen, da sie in ihrem Herzen von gleicher Essenz sind wie die „Universale Oberseele“, erforderlich ist, den vollständigen Zyklus von Verkörperungen in den materiellen Welten zu durchlaufen, um aktiv, durch eigene Anstrengung, ihr göttliches Potenzial zum Ausdruck zu bringen.

Weshalb manifestiert sich die Göttlichkeit so oft und in so unterschiedlichen Formen? Jeder göttliche Samen, jeder Gottesfunke, jede Einheit des Lebens muss die großen Zyklen der Erfahrung durchlaufen – von den spirituellsten Reichen zu den materiellsten, um aus erster Hand Wissen über jeden Seinszustand zu gewinnen. Er muss es lernen, indem er zu jeder Form wird, das heißt indem er sich in ihnen verkörpert, während er seinen Lauf durch den materiellen Bogen nimmt.

Hier gibt es eine Vision, welche das Herz erhebt: Die Empfindung, dass jeder Mensch ein notwendiger Teil des kosmischen Zwecks ist, verleiht unseren Bestrebungen, unserem Drang nach Evolution, Würde. Der Grund für diesen großartigen „Zyklus der Notwendigkeit“ ist zweifältig: Während wir als nicht selbstbewusste Gottesfunken beginnen, werden wir, wenn wir alles erfahren haben, was in jeder Lebensform zu lernen ist, nicht nur zu einem volleren Bewusstsein der Vielzahl von atomaren Lebensformen erwacht sein, die als unsere Körper auf den verschiedenen Ebenen dienen, sondern wir selbst werden aus eigenem Recht gottgleich geworden sein.

Wenn wir die enge Beziehung dieser drei Grundsätze für uns selbst erfassen, werden wir erkennen, wie alle anderen Lehren daraus hervorfließen; sie sind wie Schlüssel zu einem größeren Verständnis über Wiederverkörperung, Zyklen, Karma, die Vorgänge nach dem Tod, über die Ursache und die Linderung des Leids, die Natur von Mensch und Kosmos, über das Zusammenspiel von Involution/Evolution und vieles mehr – unentwegt verfolgt die erwachende Seele die ewige Suche.

Die theosophische Philosophie ist so groß wie das Meer: „Unergründlich in seinen Tiefen, gibt es den größten Denkern weitesten Raum und ist an seinen Ufern dennoch flach genug für das Verständnis eines Kindes.“1 William Q. Judge: Das Meer der Theosophie, S. 15 Obwohl ihre Wahrheiten tief in kosmologische Feinheiten reichen, durchzieht das Ganze eine schöne Einfachheit: Einssein ist der goldene Schlüssel. Wir sind unsere Brüder, ungeachtet welchen rassischen, sozialen, erzieherischen oder religiösen Hintergrund wir haben. Und diese Affinität ist nicht auf das Menschenreich begrenzt: Sie schließt jedes atomare Leben mit ein, das so wie wir evolviert – alles innerhalb des Netzwerks von Hierarchien, die diesen pulsierenden Organismus, den wir unser Universum nennen, zusammensetzen. Sicherlich war unser großer Fehler, uns als eigenständige, einem feindlichen Universum preisgegebene Teilchen zu betrachten, statt als Gottesfunken, die in der zentralen Feuerstelle des Göttlichen entzündet wurden – als im Wesentlichen eins in der Essenz, wie die Kerzenflamme eins ist mit den Sternenfeuern im Kern unserer Sonne.

Natürlich ist die Anerkennung des Prinzips der universalen Bruderschaft verhältnismäßig einfach im Vergleich damit, sie zu leben. Wir alle haben manchmal Schwierigkeiten, in Harmonie mit uns selbst zu leben, ganz zu schweigen davon, dasselbe mit den anderen zu erreichen. Vielleicht wäre ein erster Schritt, uns selbst zu akzeptieren, Freundschaft mit allem in unserer Natur zu schließen und zu erkennen, dass wir auf diese Weise unsere niederen Neigungen zusammen mit unseren höheren Fähigkeiten annehmen. In dieser Akzeptanz anerkennen wir automatisch die anderen – ihre Unzulänglichkeiten ebenso wie ihre Größe. Das ist tätige Bruderschaft, denn sie zerstreut jene feinen Blockaden, die uns davon abhalten zu empfinden, dass wir alle Einheiten der einen menschlichen Lebenswoge sind.

Bereits das Thema unseres Einsseins mit der Natur hat das moderne Denken und den heutigen Lebensstil revolutioniert. Wieder einmal beginnen wir, uns als Teilnehmer in einem Ökosystem kosmischer Dimension zu erkennen. Wir entdecken, dass wir, die Beobachter, nicht nur das Objekt, das wir beobachten, sondern die Gesamtheit der evolvierenden Wesenheiten maßgeblich beeinflussen. Vor allem erkennen wir – wenngleich bisher nicht in ausreichendem Maß –, dass wir eine Menschheit sind und dass das, was Sie oder ich tun, um jemanden zu unterstützen, allen wohl tut, wir schlagen damit eine klingende Saite der andauernden Symphonie an, die wir gemeinsam komponieren. Obwohl die Last unserer Unmenschlichkeit tatsächlich schwer wiegt, muss sich das Universum sogar über die kleinste Regung von Mitleid in der Seele selbst eines einzigen Menschen freuen.

Fußnoten

1. William Q. Judge: Das Meer der Theosophie, S. 15 [back]

Yoga und Theosophie

YOGA bedeutet wörtlich ‘Vereinigung’, ‘Verbindung’ und so weiter. In Indien ist es der technische Ausdruck für eine der sechs Darśanas oder philosophischen Schulen. Ihre Gründung wird dem Weisen Patañjali zugeschrieben. Der Name ‘Yoga’ selbst erklärt das Ziel dieser Schule, nämlich Vereinigung oder Einswerden mit der göttlich-spirituellen Essenz im Menschen.

– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch

Echter Yoga leitet und erhebt das Bewusstsein. Er bewirkt dadurch die Verbindung des menschlichen mit dem spirituellen Bewusstsein, das in Beziehung zum universalen Bewusstsein steht. Das Zustandekommen dieser Verschmelzung oder das Einssein mit der eigenen göttlich-spirituellen Essenz bewirkt Erleuchtung.

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, I:50

In den letzten Jahrzehnten ist Yoga in unserer westlichen Gesellschaft ein recht vertrautes Wort geworden. Es ist ein dankbares Gesprächsthema und fast jeder kennt in seiner näheren Umgebung jemanden, der Yoga ‘betreibt’. In vielen Fällen wissen wir nicht viel mehr darüber, als dass es eine aus dem Osten importierte Übungsform ist, die durch bestimmte Körperhaltungen und Atemübungen einen positiven Einfluss auf die menschliche Konstitution ausüben kann. Abgesehen vom Einfluss auf die körperliche und psychische Verfassung des Menschen, kann man sich fragen, inwiefern die im Westen üblichen Yoga-Methoden für diejenigen von Nutzen sein können, die sich nach einem besseren Verständnis des Wesens des Menschen und seiner Bestimmung sehnen und die nach geistiger Weisheit suchen. Diese Frage wird Theosophen öfters gestellt, denn es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass die Theosophische Bewegung von östlichen Lehrern gegründet wurde. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Menschen Einsicht in sein Leben zu verschaffen und ihm den Weg zur spirituellen Weisheit zu zeigen.

Wenn wir unter ‘Yoga’ die korrekte Bedeutung von ‘Vereinigung’ oder ‘Verbindung’ mit dem Höheren Selbst verstehen, können wir das Prinzip spiritueller Entwicklung oder Übung so bezeichnen. Dieses wird von der Theosophie befürwortet und ist für alle Menschen gleichermaßen gedacht, welcher Rasse oder welchem Glauben auch immer sie angehören mögen.

Wir müssen aber auch hinzufügen, dass dies kaum mit den niedrigeren psycho-physiologischen Yoga-Methoden übereinstimmt, die im Westen so sehr im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die niedrigere Form von Yoga besteht prinzipiell hauptsächlich aus psycho-physischen Übungen, die im Osten entwickelt wurden. Aber der wahre Yoga, wie er von allen großen spirituellen Weisen und Sehern gelehrt wird, und den die Theosophie hervorhebt, ist eine wohl-geordnete spirituelle Ausbildung. Ihn auszuüben führt zur Entdeckung des Inneren Gottes. Das Wissen um diese Art von Yoga ist im materialistischen Westen nahezu verloren gegangen. Andeutungsweise fand es sich lediglich bei einzelnen erleuchteten christlichen Mystikern, und die äußeren Umstände verhinderten, dass es so öffentlich und ‘wissenschaftlich’ gelehrt werden konnte, wie es die Lehrer im Osten taten. Aber auch in den westlichen Ländern wurden Methoden entwickelt, die den intellektuellen und emotionalen Bedürfnissen entgegenkamen. Der Zustand der Glückseligkeit sollte durch Liebe, Zuwendung und gute Taten erreicht werden. Die Selbstdisziplin und die körperlichen Geißelungen der Mönche hingegen glichen den Methoden mancher sogenannter Hindu-Yogis, die versuchen, den Willen zu stärken und vielleicht ein paar übersinnliche Kräfte niedrigerer Ordnung zu erlangen, indem sie ihren Körper mit Feuer und Messern usw. in mancherlei Weise quälen. Ihre anstößigen Praktiken werden manchmal – ganz zu Unrecht – mit dem verwechselt, was man ‘Hatha-Yoga’ nennt.

Vor etwa hundert Jahren betrachtete man selbst den echten östlichen Yoga hier im Westen als ein Produkt der Fantasie, auf Aberglauben beruhend, als etwas, mit dem man sich nur lächerlich machen konnte. 1893 predigte ein aufrichtiger hinduistischer Sannyāsin1 in überzeugenden Worten eine hohe Form des Yoga im Westen; aber es war unvermeidlich, dass er von den meisten seiner Zuhörer falsch verstanden wurde. Die meisten waren oberflächlich oder lediglich neugierig und wurden hauptsächlich vom östlichen Glanz angezogen, welcher für sie die neueste Mode war, der aber gleichzeitig Einsichten in geheimnisvolle Enthüllungen bieten konnte. Als die Menschen entdeckten, dass der wahre Yoga nichts mit dem Praktizieren von ‘magischen Künsten’ zu tun hat, sondern dass er ein anstrengendes Bemühen um Selbstkontrolle und Selbstläuterung ist, blieb sein Publikum aus.

Wenn die gröberen Formen der Begierde überwunden sind, kommen andere, heimtückischere Formen der Selbstsucht zum Vorschein, auch wenn sie hinter wohlklingenden Namen verborgen sind. Dazu gehört beispielsweise das eigennützige Verlangen nach okkulten Fähigkeiten. Unsere Beweggründe sind nicht immer so rein, wie wir es uns selbst vormachen; und die selbstsüchtige Persönlichkeit ist besonders darauf aus, ihren Willen schlau durchzusetzen, indem sie den niedrigeren Verstand gebraucht. Der Yoga, den die Welt braucht, gründet auf der Liebe zur Wahrheit, Güte und Weisheit, ohne Nebenabsichten: Er macht das selbstlose Arbeiten für andere zu einer Gewohnheit und einer Freude. Dem Anfänger des theosophischen Yoga wird gesagt, dass „der erste Schritt darin besteht zu leben, um der Menschheit zum Segen zu sein“ und ihm wird die Frage gestellt: „Kann Seligkeit bestehen, wenn alles, was da lebt, leiden muss? Sollst du errettet sein und den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?“ (Die Stimme der Stille, S. 94).

Wir müssen verstehen, dass die theosophische Sichtweise der spirituellen Selbstkontrolle – des Yoga – oder welchen Namen man ihr auch immer geben mag, auf diesem Prinzip beruht, und dass sie der einzige Weg ist, der uns aus dem Gefängnis des Niederen Selbstes in das Licht des ewigen Tages führt. Es ist erschütternd zu beobachten, wie intelligente Menschen, die von den konventionellen Antworten auf tiefere Lebensfragen und Fragen über den Menschen selbst enttäuscht werden, aufgrund ihrer Unwissenheit in verschiedenen Richtungen nach Antworten suchen und dabei auf irreführende, fruchtlose und mitunter sogar gefährliche Abwege geraten, während der wahre Weg offen vor ihnen liegt, die Wegweiser da sind und die Führer bereitstehen, um die richtige Richtung anzudeuten.

Die niedrigeren Yoga-Praktiken, welchen der Westen in letzter Zeit viel Interesse entgegenbringt, haben durch unfachmännische Experimente im Bereich der Atemkontrolle oder Prāṇāyāma (wörtlich „Beherrschung des Atems“), mit besonderen Körperhaltungen und anderen psycho-physiologischen Methoden vielen Menschen ernsthaften Schaden zugefügt. Nicht nur der Körper kann dabei geschädigt werden. Vielmehr kann es auch passieren, dass uns unbekannte, elementale Kräfte erweckt werden, die dem Menschen gefährlich werden können und die eine Bedrohung für den Verstand, die moralische Integrität und sogar für das Leben selbst darstellen.

Wer der Versuchung erliegt, das Tor zu psychischen Erfahrungen zu öffnen, tut gut daran, das Sprichwort von den schlafenden Hunden, die man nicht wecken sollte, im Sinn zu behalten. Ebenso wie Bulwer-Lytton in Zanoni, zeigt H. P. Blavatsky in ihrem Buch A Bewitched Life [Ein verhextes Leben] in Erzählungen das Leiden und das Elend auf, das durch das Betreten von ‘verbotener Erde’ verursacht wird. Die Menschen in den Erzählungen hatten gute Absichten, klopften aber nicht in der richtigen Art und Weise an. Die beiden okkulten Schriftsteller hatten genaue und persönliche Kenntnisse über diese Thematik. Keine intellektuelle Schulung, auch nicht westliche wissenschaftliche Untersuchungsmethoden, können die Sicherheit eines solchen Unterfangens garantieren, und das gilt gleichermaßen sowohl für östliche als auch für westliche Menschen.

Bedauerlicherweise ist bereits vielen Menschen durch die Anwendung der Atemkontrolle erheblicher Schaden entstanden, bei der das empfindliche Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Prāṇas gestört wurde, von denen Leben und Gesundheit abhängig sind, oft von der leider zu späten und bitteren Einsicht gefolgt, dass man besser den gutgemeinten Warnungen Gehör geschenkt hätte. Solche Tragödien sind üblicherweise eine Folge der Unwissenheit über diese Gefahren. Einige Menschen mit einem übersteigerten Selbstvertrauen sind bereit, jedes Risiko einzugehen, um sich der verbotenen Kräfte zu bemächtigen. ‘Verboten’ sind diese Kräfte in dem Sinne, dass wir in dieser Evolutionsperiode – ausgenommen einige wenige weiter Fortgeschrittene unter uns – das Recht noch nicht erworben haben, sie zu besitzen und die Qualität noch nicht entwickelt haben, diese Kräfte beherrschen zu können. Diese Kräfte sind durch die weise Vorsehung der Natur nicht ohne weiteres zugänglich, und jene, die ungeschickt sind, werden zu Opfern und nicht zu Meistern. H. P. Blavatsky sagt über diese Menschen, dass sie leicht „der Zauberei und der schwarzen Magie verfallen und dadurch ein furchtbares Karma für sich selbst anhäufen können, das sich über viele Inkarnationen hin auswirken wird“. Es „bestehe sogar die Gefahr, dass die gegenwärtige Persönlichkeit vernichtet werde“.

Jenen, die die Alte Weisheit studierten, wurde von Versuchen abgeraten, aus dem materiellen Körper auszutreten und im Astralen zu reisen. Leider werden im Namen der Theosophie manchmal Methoden propagiert, die das Ziel haben, den etherischen Körper von seiner materiellen Hülle zu lösen und im Astralen umherzustreifen, mit seinen fremden und bestürzenden Täuschungen, mit seinen uns unbekannten Gefahren und uns teilweise feindlich gesinnten Bewohnern. Derartige Methoden widersprechen aber ganz und gar den Lehren H. P. Blavatskys und den gesunden Idealen vom Dienst an der Menschheit. Zahlreiche Fälle zeugen von den unheilvollen Folgen für Verstand und Körper von solchen Menschen, die es zwar gut meinten, aber dennoch zu wenig wussten und sich widernatürlich vom Schutz des physischen Körpers lösten.

Die Warnungen vor unverantwortlichen Versuchen, durch Atemkontrolle und andere Hatha-Yoga-Übungen gewisse Bewusstseinszustände zu erlangen, beziehen sich selbstverständlich nicht auf vollkommen gesunde Atem- und Körperübungen, die im Sporttraining üblich sind. Es ist bedauerlich, dass es noch immer irreführende Auffassungen über Yoga gibt und dass so viele arglistige Sirenen ihre verführerischen Melodien singen, um unvorsichtige Menschen anzulocken. Auch gibt es mancherlei Hellseher, echte oder weniger echte, die ihre Praktiken unter der Bezeichnung ‘Yogi’ ausüben; man sollte sie aber eher als Wahrsager bezeichnen. Anstelle eines seriösen und wertvollen Buches über die Philosophie des höheren Yoga aus dem Osten, werden dem Publikum Dutzende von Titeln angeboten, die eine ungesunde Neugierde nach Phänomenen schüren und die Schriftsteller kümmern sich nicht darum, ob die von ihnen empfohlenen Übungen gefährlich sind oder nicht. Vielleicht sind sie in manchen Fällen selbst unwissend, aber ihre Intention ist es, ein kommerzielles Produkt zu verkaufen. Andere, die es noch weniger genau nehmen, bieten für Geld Fernunterricht an und behaupten, dass auf diese Weise die psychischen Zentren und damit auch die pranischen Kräfte im Körper erweckt werden können. Es ist aber sehr gefährlich für die Gesundheit des Körpers und der Seele, wenn das natürliche Gleichgewicht gestört wird. Wieder andere versprechen Entspannung und ‘Einweihung’ gegen Bezahlung. Müssen wir uns da noch wundern, dass die echten Mysterienschulen vor Entweihungen solcher Art sicher abgeschirmt wurden (und werden) ?

Es gibt auch andere Formen des psychischen Yoga, die in keiner Weise von geistiger Natur sind, wenn sie auch nicht so allgemein zum Handelsobjekt gemacht werden. Sie gründen sozusagen auf einer Art wissenschaftlicher Technik, um teilweise hinter den Schleier der materiellen Natur vorzudringen. Aber diese Technik ist nicht geistiger oder ethischer als z. B. die Chemie und kann ebenso wie die Chemie für verwerfliche Zwecke verwendet werden. In den Händen von Menschen, deren Herz und Seele nicht vollkommen rein und selbstlos sind – und wie wenige sind das –, kann diese Technik genauso zerstörerisch wirken wie eine Mischung von Chemikalien in den Händen eines unwissenden und neugierigen Kindes. Alexandra David-Neel, eine buddhistische Gelehrte und maßgebliche Kapazität auf dem Gebiet des tibetischen Okkultismus, sowie Lama Yongden und andere kompetente Personen beschrieben viele Fälle, in denen Gefühle der Rache, des Ehrgeizes oder der Eitelkeit boshafte Menschen in Tibet dazu brachten, sich dieser Technik zu bemächtigen, ohne sich um die Folgen für andere und meist auch für sich selbst zu kümmern.

Aber abgesehen von jenen, die solche minderwertigen Ambitionen haben, gibt es viele intelligente Menschen, die nicht nur die ‘Eitelkeiten’ dieser Welt aufgeben, sondern gleichzeitig auch noch die gesunden Aktivitäten und Pflichten vernachlässigen, um durch niedrigere Yoga-Techniken persönlichen Fortschritt zu erlangen. Sie denken zu Unrecht, dass dies der einzige Weg zur Erkenntnis sei und konzentrieren sich auf ihre eigene Errettung und Seligkeit, ohne dabei das Wohlergehen der gesamten Menschheit vor Augen zu haben, die sich dann selbst darum kümmern muss, wie sie ihr Ziel erreichen kann. Dasselbe Prinzip der Erlösung für sich selbst ist in einer etwas anderen Form auch in den christlichen Ländern nicht unbekannt. Man muss allerdings hinzufügen, dass hier mittlerweile das Verantwortungsbewusstsein den ärmeren Ländern gegenüber zunimmt.

Eine Haltung des ganz und gar auf sich selbst gerichteten Seins ist das letzte, was ein wahrer Yogi gutheißen würde, denn hierdurch werden die Grundregeln der Bruderschaft verleugnet. Echter Yoga kann ohne Einsicht in die menschliche Natur nicht existieren, verbunden mit Mitleid und dem Verlangen zu helfen sowie dem wahrhaftigen Streben, den am wenigsten Fortgeschrittenen die schwere Last spiritueller und intellektueller Unwissenheit zu erleichtern, „selbst den Geringsten von ihnen“. Wahrer Yoga kennt keine ‘Unberührbaren’. H. P. Blavatsky schreibt in ihrem Buch Studies in Occultism:

…Wahrer Okkultismus oder Theosophie ist die ‘Große Entsagung des SELBST“, bedingungslos und absolut, in Gedanken wie in Taten’.

– S. 28 (engl.)

… Es ist nicht möglich, spirituelle Kräfte anzuwenden, solange auch nur der geringste Rest von Selbstsucht in dem Ausübenden vorhanden ist. Denn wenn das Motiv nicht absolut rein ist, wird das Spirituelle sich in das Psychische umwandeln, auf der Astralebene wirken und schreckliche Folgen können dadurch hervorgebracht werden. Die Mächte und Kräfte der tierischen Natur können gleichermaßen von selbst- oder rachsüchtigen wie auch von unselbstsüchtigen und alles verzeihenden Menschen benutzt werden; die Mächte und Kräfte des Geistes eignen sich nur für diejenigen, die ganz und gar reinen Herzens sind – und das ist GÖTTLICHE MAGIE.

– S. 3 (engl.)

Diese Erde ist unser Zuhause und wird es noch lange sein. Die Welt hat alle Hilfe nötig, die starke Seelen ihr geben können. In dem Maße, in dem wir auf diesem Weg vorwärts kommen, werden alle unsere Fähigkeiten – spirituelle, intellektuelle und sogar psychische – uns in einem natürlichen Prozess der Evolution unterstützen, weil sie durch die richtige Bestrebung hervorgerufen wurden. Die spirituelle Intuition in dieser entmutigten und materialistischen Welt für selbstloses Streben zu erwecken, ist der einzige Yoga, der der Mühe wert ist. Es ist der Yoga der Theosophie. Er stellt uns vor eine drängende Frage: „Werde ich mein Leben so gestalten, dass es nützlicher wird, dass ich mehr Bereitschaft zeige und imstande sein werde, der Menschheit so zu dienen, wie mein Gewissen es mir vorschreibt?“

Die Meister, welche die Theosophische Bewegung gründeten, sind mit dem psycho-physischen System des Yoga vollkommen vertraut, das bestimmte Körperübungen und Atemprozesse (das niedrigere Hatha-Yoga) zur Einführung oder als Grundlage für höhere Übungen zum Gegenstand hat. Aber aus der eigenen Erfahrung kennen sie die ernsthaften Schwierigkeiten und sie haben nie zugelassen, dass Yoga in der Theosophischen Bewegung praktiziert wurde, wie interessant es auch für die Wissenschaftler dieser Art von Psychologie sein mag. Von jeder Neigung, ‘Yoga zu praktizieren’, wird dringend abgeraten und zwar aus sehr guten Gründen. In diesem Zusammenhang ist es gut, wenn wir uns an die Erzählung von Buddha erinnern, der seine Suche nach der Wahrheit mit dem Ausüben des niedrigeren Yoga, der strengen Askese, begann. Schon bald merkte er, dass sie seinem Fortschritt im Wege stand, sogar in seinem besonderen Fall.

Für die ernsthaft nach Seelenweisheit Strebenden kommt die Zeit, dass ungewöhnliche psycho-spirituelle Kräfte und Fähigkeiten sich auf ganz natürliche Weise zu entwickeln beginnen. Und unter diesen günstigen Umständen wird es für sie nicht schwierig sein, einem wahren Lehrer zu begegnen, der ihre weitere Entwicklung führen kann. Eine okkulte Redensart lautet: „Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer“. Die Weisen suchen fortwährend nach Anwärtern für die Armee des Lichtes und der Befreiung. Zu allen Zeiten gab es Menschen, die als würdig erachtet wurden, in dieser Weise begleitet zu werden, ungeachtet ihrer Religion oder ihrer philosophischen Überzeugung.

Auch die Geschichte der Theosophischen Bewegung kennt solche Fälle. Ein markantes Beispiel ist das eines intellektuellen und spirituell entwickelten jungen Hindus, der H. P. Blavatsky nach ihrer Ankunft in Indien unterstützte, wo sie unter großen Schwierigkeiten ihre erste theosophische Zeitschrift veröffentlichte. Dieser junge Mann, Dāmodar K. Māvalankar, gab seinen stolzen brahmanischen Kastenstand und eine glänzende, vor ihm liegende weltliche Karriere auf, um sich mittels der Theosophie der selbstlosen Arbeit für die Menschheit zu widmen. Sein Ernst und seine Zuwendung erregten die Aufmerksamkeit der Meister der Weisheit und des Mitleids, die hinter der Arbeit der Theosophischen Bewegung stehen. Er entdeckte, dass in ihm allmählich und ohne besondere Anstrengung neue Kräfte, körperliche wie auch mentale und sogar psycho-spirituelle Kräfte erwachten und für die große Aufgabe des Dienens, die ihm bevorstand, zur Verfügung standen.

Dāmodar ist das leuchtende Vorbild eines wahren Schülers. Die von ihm entwickelten Fähigkeiten waren für die Bedingungen, die er ins Leben gerufen hatte, vollkommen normal. Er strebte sie nicht um persönlicher Befriedigung willen an, noch stellte er sie jemals zur Schau, um jene nicht anzuspornen, die egoistisch nach psychischen Kräften strebten. Ein weiteres, für sich selbst sprechendes Beispiel für das gleiche Verhalten verkörperte innerhalb der Theosophischen Bewegung William Quan Judge. Und die Geschichte kennt noch andere.

Diese ergebenen Menschen hatten das erhabene Ziel der menschlichen Evolution vor Augen: das Einswerden mit dem Inneren Gott, dem ‘Vater im Himmel’. Das Beschreiten dieses Pfades sowie das Entwickeln des geistigen Hellsehens, erfordern keine physischen Übungen oder körperlichen Quälereien – und sicher nicht das Aufgeben jeglichen Kontaktes zu den Mitpilgern auf dem emporführenden Lebensweg. Die für uns notwendigen Erfahrungen liegen im Straucheln und Wiederaufstehen in unserem Leben verborgen, darin, dass wir das Unvermeidliche frohen Mutes annehmen und dass wir die karmischen Schwierigkeiten anderer verständnisvoll miterleben, die oftmals der Hilfe bedürfen, um sich selbst helfen zu können. Der theosophische ‘Brahma Yogi’ ist der Mann oder die Frau, an den oder an die sich die anderen, die sich gerade in Schwierigkeiten befinden, instinktiv wenden, um Rat zu erhalten. Der Brahma Yogi ist der Friedenstifter, zu Hause und überall.

William Quan Judge fasst den theosophischen Yoga in überzeugenden Worten wie folgt zusammen:

Was also ist das wahre Heilmittel, der königliche Talisman? Es ist PFLICHT, Selbstlosigkeit. Beständige Pflichterfüllung ist der höchste Yoga. … Auch wenn Sie nichts anderes tun können als Ihre Pflicht, sie wird Sie zum Ziel führen.

Letters That Have Helped Me, Teil II, S. 3

Es ist die grenzenlose barmherzige Liebe, die Buddha veranlasste zu sagen: „Lasst die Sünden dieses dunklen Zeitalters auf mich fallen, auf dass die Welt errettet werde“, und nicht der Wunsch zu entfliehen oder das Verlangen nach Wissen. Dies kommt in den Worten zum Ausdruck: „DER ERSTE SCHRITT IN WAHRER MAGIE IST HINGABE FÜR DAS WOHL ANDERER.“

– Ebenda, S. 19

Fußnoten

1. Sannyāsin (Sanskrit): Jemand, der die Bande und die Anziehung der Welt aufgibt, um der spirituellen Natur zu dienen. [back]

Historischer Überblick

Der ‘heidnische’ Ursprung des Christentums

In diesem Kapitel wollen wir zeigen, dass das Christentum nicht eine ganz neue Religion war, sondern aus etwas hervorging, was bereits vorher existierte. Seine Hauptlehren sind auch Bestandteil älterer Religionen, und viele Riten und Dogmen wurden vom sogenannten heidnischen Glauben übernommen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts entstand in den Vereinigten Staaten eine Bewegung, die sich Fundamentalismus nannte, welcher die Unfehlbarkeit der Bibel lehrte, sich gegen den Liberalismus zur Wehr setzte und zum wahrhaftigen alten Evangelium zurückkehren wollte. Aber wie weit sollte man da zurückgehen und welchen Moment in der Geschichte könnte man als den Anfang betrachten? Einige Aussagen frühchristlicher Autoren sind hier angebracht. Augustinus, der von 354-430 n. Chr. lebte, schrieb:

Das, was jetzt als die christliche Religion bezeichnet wird, war tatsächlich den Alten bekannt, von Anfang an fehlte sie nie in der menschlichen Rasse – bis zu der Zeit, da Christus im Fleisch erschien; danach begann man, die wahre Religion, die voher existierte, christlich zu nennen. Das ist in unseren Tagen die christliche Religion – nicht weil sie in vergangenen Zeiten fehlte, sondern weil sie in späteren Zeiten diesen Namen bekam.

Augustini Opera, I, 12

Eusebius von Caesarea, christlicher Theologe und Historiker, der kurz vor Augustinus lebte und ein feuriger Verteidiger der neuen Religion war, fühlte sich dennoch gezwungen zuzugestehen, dass die christliche Religion weder neu, noch fremd und den Alten bekannt war (Kirchengeschichte, Buch I, Kapitel iv).

Justin der Märtyrer (100-163? n. Chr.), Kirchenhistoriker und Philosoph, der Kaiser Hadrian gegenüber das Christentum verteidigte, gab sich viel Mühe, um dessen Identität mit dem Heidentum zu zeigen:

Indem wir erklären, dass das Wort (Logos), der erstgeborene Sohn Gottes, unser Herr Jesus Christus, von einer Jungfrau geboren wurde, ohne eine einzige menschliche Vermischung, gekreuzigt wurde und starb und später auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, sagen wir nicht mehr als Sie über jene sagen, die Sie die Söhne Jupiters nennen. …Was den Einwand anbelangt, dass unser Herr Jesus gekreuzigt wurde, sage ich, dass Leiden in den Leben aller erwähnten Söhne Jupiters vorkam, nur dass sie einen anderen Tod starben. … Was das Heilen der Lahmen, Gebrechlichen und Kranken anbelangt – das ist kaum mehr, als was Sie von Ihrem Äskulap erzählen.

Apologia, I, Kapitel xxi, xxii

Ammonius Saccas, der große alexandrinische Lehrer und Sohn christlicher Eltern, der ungefähr 150 Jahre vor Augustinus lebte, sagte:

Das Christentum und das Heidentum – vorausgesetzt sie werden gut verstanden – unterscheiden sich nicht in wesentlichen Punkten, denn sie haben einen gemeinsamen Ursprung und sind tatsächliche ein und dieselbe Sache.

Das folgende Zitat betrifft die Kontroverse zwischen H. P. Blavatsky und dem Abbé Roca, die im April 1888 in der französischen Zeitschrift Le Lotus veröffentlicht wurde:

Jesus Christus – das heißt der Mensch-Gott der Christen, eine Kopie der Avatāras aller Länder, sowohl des hinduistischen Krishna wie des ägyptischen Horus – war für mich nie eine historische Person. Er ist die vergöttlichte Personifikation des verherrlichten Vorbilds der großen Hierophanten der Tempel, und seine Geschichte, so wie sie im Neuen Testament erzählt wird, ist eine Allegorie, die gewiss tiefe esoterische Wahrheiten enthält – aber eine Allegorie. … Die Legende, von der ich spreche, gründet sich … auf die Existenz einer Person Jehoshu genannt (woraus der Name ‘Jesus’ hervorging), der ungefähr 120 Jahre vor der modernen Zeitrechnung in Lud oder Lydda geboren wurde. … Wenn wir das Zeugnis der ‘Evangelisten’ – also unbekannter Männer, deren Identität nie festgestellt wurde –, der Kirchenväter und interessierter Fanatiker beiseite lassen, können wir sagen, dass trotz jahrhundertelanger, verzweifelter Untersuchungen weder die Geschichte, noch die allgemeine Überlieferung, noch offizielle Dokumente, noch die Zeitgenossen des sogenannten Dramas einen einzigen seriösen Beweis in den Jahren 1 bis 33 für die historische und tatsächliche Existenz liefern konnten – keinen für den Mensch-Gott und auch nicht für den Jesus von Nazareth genannten Menschen. Alles ist dunkel und still.

Philo Judaeus, der vor der christlichen Zeitrechnung geboren wurde, … machte mehrere Reisen nach Jerusalem. Er ging dorthin, um über die Geschichte der religiösen Sekten seiner Zeit in Palästina zu schreiben. Kein Geschichtsschreiber ist in seinen Beschreibungen gewissenhafter und mehr auf der Hut, nichts zu vergessen, keine Gemeinde, keine Bruderschaft, nicht einmal das Unbedeutendste entging ihm. Weshalb spricht er nicht von den Nazarenern? Weshalb macht er nicht die geringste Anspielung auf die Apostel, auf den göttlichen Galiläer, auf die Kreuzigung? Die Antwort ist einfach. Weil die Biografie von Jesus nach dem ersten Jahrhundert aufgeschrieben wurde und niemand in Jerusalem mehr wusste als Philo selbst.

Diese Passagen, die nur wenige Beispiele für das darstellen, was angeführt werden könnte, zeigen, dass das Christentum als eine Fortsetzung einer jahrhundertealten Lehre gesehen wurde. In Bezug auf die äußere Form wurden Änderungen vorgenommen, welche durch die sich ändernden Zeiten notwendig geworden waren.

Die Geschichte des Christentums beweist, dass es von einer gewaltigen Kraft inspiriert wurde – einer alles besiegenden Vitalität, die es ihm ermöglichte, sich über Jahrhunderte zu behaupten und so einen großen Teil der Welt zu beherrschen. Und trotzdem können wir, wenn wir nach dem Ursprung suchen, bis auf äußerst magere Nachweise nichts weiter finden.

Die Geschichte Jesu ist sehr zweifelhaft; seine Mission, so wie sie in den Evangelien wiedergegeben ist, beschränkt sich auf einige wenige Monate und wird von den heidnischen Historikern ignoriert. Das Christentum ist eine Wiederbelebung der Weisheitsreligion und verdankt seine Entstehung einem großen Boten der Loge, über den keine Aufzeichnungen vorliegen. Die Figur aus den Evangelien ist fiktiv; die Evangelien wurden lange nach der Zeit geschrieben, auf die sie sich angeblich beziehen. Und nach den Briefen des Paulus zu urteilen, scheinen sie ihm völlig unbekannt gewesen zu sein.

Es gibt eine jüdische Erzählung über einen gewissen Syrier mit Namen Jeshua oder Jehoshua ben Panthera, der ungefähr 100 Jahre vor Christus unter der Regierung des jüdischen Königs Alexander Jannaeus lebte; manche meinen, dass der Name Jesus daher kommt. Von diesem Mann stammen die Lehren zweier Sekten jüdischer Christen, die vor der christlichen Zeitrechnung lebten, die Ebioniten und die Nazarener. Sie vertreten die reinste Form des Christentums und lehrten, dass Christus in allen Menschen ist. Sie vertraten auch die Lehre von den Äonen oder göttlichen Emanationen, die zeigen, dass der Mensch selbst von den höchsten Gottheiten abstammt. Die Lehre der christlichen Gnostiker und Neuplatoniker war gleichlautend.

Ursprünglich war das Christentum offenbar eine Form der Weisheitsreligion. Es lehrte, dass der Mensch in seiner Essenz ein göttliches Wesen und Christus einfach der göttliche Geist im Menschen ist; dass der Mensch seine Erlösung selbst erarbeiten muss, indem er sich seiner eigenen göttlichen Natur bewusst wird und an sie appelliert. Später wurde diese erhabene und alte Wahrheit zu einem Glauben an einen persönlichen Gott – getrennt von Mensch und Natur – und zu der Lehre des stellvertretenden Sühneopfers umgewandelt. Dieser Prozess der Umwandlung ging jedoch allmählich vor sich.

Frühe Formen des Christentums

Das Gebiet um das Mittelmeer war zu Beginn der christlichen Ära das Zentrum der Zivilisation, die Bühne für eine erstaunliche Mischung miteinander wetteifernder Glaubensformen unter der allgemeinen Herrschaft des römischen Kaiserreichs. Es gab verschiedene Zentren, in welchen die alten Mysterien aufbewahrt, gelehrt und praktiziert wurden: Alexandria, Antiochia und in weiteren Städten Kleinasiens. Diese standen in Verbindung mit Indien und Persien. Das frühe Christentum nahm die Lehren dieser Schulen an, und es wurde üblich, diese Formen des Christentums als Ketzerei zu betrachten, weil sie angeblich von heidnischen Quellen beschmutzt waren, womit man die Angelegenheit ins genaue Gegenteil verkehrte. Das war das Urchristentum, während die späteren Formen das Christentum nur in sehr beschränktem Maß wiedergeben. Unsere Aufmerksamkeit beschränkte sich so stark auf die schließlich überlebende Art der Darstellung unserer Religion, dass wir viele andere Formen, die jahrhundertelang miteinander wetteiferten, ignorierten; das hatte zur Folge, dass wir dem fortschreitenden Materialismus jener Zeit verfielen.

Marcion, der ungefähr von 86 bis 165 nach Christus lebte, gründete die Kirche der Marcioniten, die bis zum fünften Jahrhundert existierte. Er versuchte, das Christentum von verderblichen Einflüssen zu reinigen. Er stimmte mit den Erzählungen über Christus in den Evangelien nicht überein und sagte, dass diese Geschichten ‘verweltlichte’ Darstellungen metaphysischer Allegorien und Entartungen der wahrhaft spirituellen Idee seien. Er beschuldigte die Kirchenväter, dass sie ihre Lehre dem Auffassungsvermögen ihrer Zuhörer anpassten – ‘blinde Dinge für die Blinden, ihrer Blindheit entsprechend, für die Dummen ihrer Dummheit entsprechend.’

Der Manichäismus war ein gefürchteter Konkurrent der Kirche. Fast alle römischen Kaiser versuchten ihn zu unterdrücken, während Päpste ihn mit dem Bann belegten. Trotzdem übte der Manichäismus ungefähr tausend Jahre lang seinen Einfluss aus, der bei den Albigensern in Südfrankreich, welche einigen seiner Lehren anhingen, sogar bis in das dreizehnte Jahrhundert spürbar war. Der Gründer des Manichäismus, Mani, war iranischer Herkunft und wurde in Babylonien geboren. Im Jahre 242 n. Chr. ernannte er sich selbst zum Boten einer neuen Religion, sandte Apostel aus und gründete Gemeinden in ganz Kleinasien.

Über ihn schreibt Dr. G. de Purucker in The Esoteric Tradition, Seite 1101:

Die Manichäer, eine Vereinigung von tief mystischen und in einigen Punkten sogar esoterischen Denkern, waren nicht nur weit über das Römische Reich, sondern auch im Nahen Osten verbreitet. Sie hielten an gewissen Glaubenssätzen fest, die sie mit den mehr mystischen Ideen des frühen Christentums verbanden. So sagten sie, dass die göttliche Sonne die Quelle des individuellen Christos-Geistes im Menschen und dieser letztere ein Strahl jenes kosmischen Christos sei. Die Kirchenväter Theodoret und Cyril von Jerusalem bezeugen diese Tatsache manichäischen Glaubens; und im 5. Jahrhundert sagt Papst Leo, der Große, in seinem Sermon Nr. IV über die Epiphania, dass die Manichäer den Christos der Menschen in die leuchtende Substanz der unsichtbaren Sonne versetzten – mit anderen Worten in ihre göttliche, beseelende Energie. Solche bezeichnenden Ideen waren … zur Zeit der ersten Entstehung des christlichen Glaubens und des kirchlichen Systems in der Welt weit verbreitet.

Clemens von Alexandrien, kirchlicher Autor, wurde ungefähr in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. geboren – vermutlich in Athen. Er unternahm ausgedehnte Reisen durch Italien, Palästina, Ägypten und Syrien und übernahm später in Alexandrien die Leitung der sogenannten Katechetenschule von Pantanaeus. Er strebte danach, das Christentum ‘durch die tiefe Spiritualität des Platonismus’ zu bereichern und ‘befürwortete ein Christentum, das auf freiem Forschen basiert’ – und nicht allein auf Glauben.

In seiner ‘Ermahnung an die Heiden’ sagt er:

… der Mensch ist ein zusammengesetztes Wesen aus Körper und Seele, ein Kosmos im Kleinen.

Das ist eine typisch theosophische Lehre, hier von jemandem geäußert, der von der christlichen Kirche heilig gesprochen wurde.

Der Nachfolger von Clemens war Origines, der im Jahre 185 n. Chr. geboren wurde und den man den größten christlichen Fürsprecher der frühen theologischen Schule nennen kann. Er hatte einen Schüler mit Namen Celsus, dem er den Rat gab, sich als ein vorbereitendes Studium zur christlichen Philosophie der griechischen Philosophie zu widmen. Celsus schrieb sein Buch Das wahre Wort in den Jahren 177 bis 200. Was wir über dieses Buch und den Autor wissen, verdanken wir einem Werk von Origines, Contra Celsum, das sich dagegen wendet. Nach Celsus ist das Christentum orientalischen Ursprungs, seine ethischen Lehren nicht neu und viele seiner Zeremonien den heidnischen Religionen ähnlich. Er fragte sich, warum der eine Gott, den sowohl die Christen als auch die Heiden anerkennen, nicht unter verschiedenen Namen verehrt werden könne – wie Zeus, Serapis und so weiter. Warum sollte Jehova der einzige Name sein, an dem man die Gottheit erkennen kann? Warum kam Jesus so spät, um die Menschheit zu retten?

Im oben erwähnten Buch Contra Celsum schreibt Origines:

In Ägypten haben die Philosophen eine sehr edle und geheime Weisheit über die Art des Göttlichen. Und diese Weisheit wird dem Volk nur in der Form von Allegorien und Fabeln enthüllt. …

Alle orientalischen Völker – die Perser, die Indier, die Syrier – verbergen geheime Mysterien im Gewand religiöser Erzählungen und Allegorien; die wahren Weisen (Initiierten) aller Völker verstehen deren Bedeutung; aber die nicht unterrichteten Massen sehen nur die Symbole und das verhüllende Gewand.

Origines war Neuplatoniker und sowohl er als auch Plotin wurden in der Schule von Ammonius Saccas ausgebildet. Sein Erscheinen bedeutet einen weiteren Schritt in der Entwicklung des Christentums – von seinem liberalen und erhabenen Ursprung zu seiner beschränkten und dogmatisch kirchlichen Form. Trotzdem hing er vielen Lehren an, die seitdem als Ketzerei verurteilt wurden, wie zum Beispiel der Gedanke, dass alle Seelen eine wirkliche Einheit mit Gott bilden und nicht nur die Seele Jesu. Weiter, dass das sichtbare Universum die Manifestation einer höher spirituellen ursächlichen Welt ist. Wie Paulus kannte er die Lehre von den Hierarchien göttlicher Wesen zwischen Gott und Mensch (‘Throne, Herrschaften, Obrigkeiten, Mächte’ und so weiter). Das Universum hat einen Anfang und muss also auch ein Ende haben; ihm aber werden andere Universen – seine Kinder – folgen, was eine rein theosophische Lehre ist.

Die Gnostiker der ersten drei Jahrhunderte lehrten die Gnosis oder Erkenntnis des Göttlichen. Zu ihnen gehörten unter anderem Valentinus, Basilides, Marcion und Simon Magus. Sie vertraten ihre Ansichten zu einer Zeit, als das Christentum noch Lehren über die Natur von Universum und Mensch enthielt; als jedoch die Religion zum Gemeingut wurde, wurden diese Lehren als Ketzerei verurteilt.

Obschon anerkannt wird, dass bereits vor Anfang unserer Zeitrechnung gnostische Gemeinden existierten, bezeichnete man den Gnostizismus manchmal dennoch als eine christliche Ketzerei. Der Gnostizismus war nicht ausschließlich mit einer bestimmten Religion verbunden, denn seine Gnosis beruhte auf esoterischer Weisheit, die das Herz aller Religionen war, so wie sie von den ursprünglichen Gründern und manchmal von ihren unmittelbaren Nachfolgern verkündigt wurde.

Ein wichtiger Fund wurde im Jahre 1945 in Nag-Hammadi in Ägypten gemacht: eine große Anzahl christlich-gnostischer Schriften. Diese Schriften enthüllen, dass von den Gnostikern ein bedeutender Beitrag zu jener Strömung geleistet worden war, die schließlich zum Christentum wurde.

Die wichtigsten Lehren der Gnostiker können wie folgt zusammengefasst werden:

1. Der Gegensatz zwischen Geist und Stoff.

2. Die allegorische Interpretation der Erzählungen des Alten Testaments.

3. Der erhabenste Gott war nicht jener Gott, der die Welt erschuf; die Welt wurde von einem niedrigeren Äon namens Demiurgos erschaffen.

4. Jesus war nicht der Sohn von Josef und Maria; aber er war herabgestiegen aus der Höhe; er war eigentlich der höchste der Äonen, der unmittelbar aus dem Göttlichen hervorging; er war der Erlöser – nicht nur der Menschen, sondern auch der Welt; und er erschien, um der ursprünglichen alten Gnosis wieder den ihr gebührenden Platz zu verleihen.

5. Der Glaube an Karma und Reinkarnation.

Dass im Allgemeinen so wenig über diese Dinge bekannt ist, ist einfach eine Folge der Tatsache, dass die Verurteilung durch die Kirchen den Menschen daran hinderte, diese Dinge zu studieren. Wenn wir einmal wissen, dass solche Informationen zur Verfügung stehen, können wir uns leicht selbst ein Bild davon machen. Es ist unser Ziel zu zeigen, dass das Christentum edleren Ursprungs war und uns in einer sehr geänderten und verarmten Form überliefert wurde.

Die Entfaltung des Christentums

Die Geschichte der ersten Christen, wie sie uns von den Chronisten der römischen Welt jener Tage überliefert wurde, ist dem Leser im Allgemeinen besser vertraut. Zu Anfang sehen wir eine Art kommunaler Sekte, deren Verhalten hohe Ideale aufweist. Da die Sekte wächst, wird sie umorganisiert und in Orden unterteilt, was wir als den Anfang einer kirchlichen Hierarchie betrachten können. Die kaiserlichen Behörden waren in Bezug auf den religiösen Glauben tolerant, aber äußerst eifersüchtig auf jede Organisation, die zu einer Bedrohung der kaiserlichen Macht werden könnte. Kaiser Trajan (53?-117 n. Chr.) erlaubte aus diesem Grund nicht einmal die Bildung einer bürgerlichen Feuerwehr, obschon er an sich ein verständnisvoller Mann war.

Dass die Christen mit der etablierten Macht in Konflikt gerieten, hatte folgende Gründe. Sie lehnten es ab, sich am alltäglichen Leben der Gemeinschaft zu beteiligen, an Opfern und den üblichen Zeremonien teilzunehmen oder als Soldaten zu dienen. Damit sonderten sie sich als eine mehr oder weniger gefährliche Sekte ab und setzten sich Verfolgungen aus. Wie wir wissen, wurden sie gerade durch diese Verfolgungen gestärkt, bis sich die weltlichen Autoritäten schließlich gezwungen sahen, mit den kirchlichen Autoritäten zu einem Kompromiss zu gelangen – Clovis im Westen, die römischen Kaiser weiter östlich. Zwei große Gruppen – die Anhänger des Athanasius und die Arianer – beherrschten jahrhundertelang die Arena, während verschiedene Kaiser der einen oder anderen Richtung anhingen, bis schließlich die Lehre des Athanasius im Westen und die arianische im Osten dominierte. Das Christentum wurde von den nördlichen Eroberern Roms angenommen und mit einigen Modifikationen zur Religion des nördlichen Europa.

Der Kirchenlehrer Athanasius, den man den ‘Vater der Orthodoxie’ nennt, hat seine Lehre in De Incarnatione verbi festgelegt. Kurz zusammengefasst besagt seine Lehre, dass der Logos (Sohn) im Wesen mit seinem Vater eins ist. Sein Gegner, Arius, lehrte, dass nur Gott unerschaffen und die Ursache von allem sei. Der Sohn wird nach Arius von Gott erschaffen; und obschon er ihm gleicht, ist er dem Wesen nach nicht eins mit ihm. Die jahrhundertelange Geschichte zu verfolgen ist überflüssig: Der lange und erbitterte Kampf der Reformation, als beide Parteien ihren Glauben sehr ernst nahmen und die weltliche Macht der damaligen Zeit sich von der geistigen nicht unterschied, ist hinreichend bekannt. Die eine Seite beruft sich auf die in gerader Linie von den Aposteln überlieferte Autorität, die andere auf die Bibel. Der Geist des römischen despotischen Kaiserreichs lebte noch und rang mit der Freiheit des Denkens um die Macht. Mittlerweile hat jedoch die Uneinigkeit abgenommen, denn die Menschheit sucht ihre Inspiration in der ewigen Quelle – dem göttlichen Funken im menschlichen Herzen.

Valentin war der berühmteste christliche Lehrer des zweiten Jahrhunderts. Er war der Lehrmeister der Kirchenväter Origines und Clemens. Nach den christlichen Apologeten hat er versucht, griechische, neugriechische, jüdische und christliche Elemente zusammenzuschmieden, wobei er eine bewundernswerte Tüchtigkeit und Originalität an den Tag legte. Aber ein Vergleich seiner Lehren mit denen aus anderen Systemen zeigt unmittelbar, dass es die Lehren der Alten Weisheit waren, die er den damals existerierenden esoterischen Schulen in Ägypten und anderen Teilen der Welt rund um das Mittelmeer entlehnt haben muss. Seine Schule, der Valentinianismus, war lange Zeit sehr einflussreich und weit verbreitet, mit wichtigen Zweigen in Italien, Kleinasien und verschiedenen kleineren Städten. Sein Einfluss auf das spätere Denken war sehr groß. Er behauptete, dass die Apostel nicht alles, was sie wussten, öffentlich bekannt gemacht hätten, sondern dass sie im Besitz esoterischer Lehren gewesen seien. Er lehrte, dass die Erste Ursache, die er Bythos (die Tiefe) nannte, sich als Pleroma (Fülle) manifestierte – als Gesamtheit des geoffenbarten Universums. Weiter lehrte er die Lehre der göttlichen Hierarchien. Dieser Lehre gemäß emanierte die erhabene Gottheit aus sich selbst heraus aufeinanderfolgende Ordnungen göttlicher Wesen, die teilweise als Erzengel, Engel, Obrigkeiten, Mächte und so weiter bezeichnet werden, bis wir beim Menschen selbst ankommen, der also unmittelbar von der höchsten Gottheit abstammt und deshalb alle göttlichen Fähigkeiten in sich trägt, die zum größten Teil latent sind, deren man sich jedoch bewusst werden kann. Die Welt, in der wir leben, war nicht von der höchsten Gottheit erschaffen, sondern von einzelnen der niedrigeren Emanationen, und dies erklärt ihre Unvollkommenheiten, die oft so schwierig mit unserem Glauben an göttliche Weisheit zu versöhnen sind. Valentin lehrte die wahre Bedeutung von Christus als der göttlichen Inkarnation in jedem Menschen und der Erlösung, sobald sich der Mensch seines Wissens über die eigene essenzielle Göttlichkeit wieder bewusst wird.

Das gibt ein ungefähres Bild darüber, was das Christentum in Wirklichkeit ist und dass die Menschen einmal wussten, wer sie in Wirklichkeit sind. Aber als das Christentum hauptsächlich zu einem politischen Faktor wurde und man es für nötig hielt, es den Bedürfnissen so vieler verschiedener Völker anzupassen – Römer, Griechen, Asiaten und Teutonen – hatte die Notwendigkeit der Uniformität und einer etablierten Kirche mit festen Lehrsätzen zur Folge, dass die erhabeneren Lehren abgeschafft wurden.

Die Erdkette und ihre Bewohner

Um den wahren Ursprung des Menschen verstehen zu können, müssen wir etwas über die Erde wissen; denn das Leben und die Entwicklung des Menschen sind eng mit der Erde verknüpft. Der Mensch lebt nicht nur auf der Erde; sein Leben bildet einen Teil vom Leben des Planeten und sogar noch mehr – einen Teil seines Bewusstseins. Dass die Erde ein Lebewesen ist, ist eine alte Wahrheit, die meistens als Aberglauben betrachtet wird. Sie wird geboren, lebt und stirbt, um nach einer Ruheperiode des die Erde beseelenden Geistes – oder ihrer Seele, wenn Sie so wollen – wiedergeboren zu werden.

Darüber hinaus ist diese Erde mehr als die sichtbare, uns vertraute felsige Kugel. Den alten Lehren gemäß besteht sie aus einer Gruppe von sieben Globen, die man – technisch gesprochen – eine Planetenkette nennt. Wir sehen nur den Globus, auf dem wir leben, weil die anderen sechs aus immer feinstofflicherer Materie bestehen – zu fein, um mit unseren Sinnen wahrgenommen werden zu können. Diese unterschiedlichen Feinheitsgrade der Materie stehen mit der Existenz verschiedener Bewusstseinszustände in Zusammenhang, die das bilden, was in der Theosophie als Ebenen bezeichnet wird.

Der Kosmos ist auf natürliche Weise in eine Anzahl von solchen Zuständen oder Ebenen des Bewusstseins unterteilt; und jedes Wesen im Kosmos, auch eine Planetenkette, folgt demselben Muster. Die sieben Globen unserer Erdkette gruppieren sich in natürlicher Weise auf vier dieser kosmischen Ebenen. Folgendes Diagramm ist ein nützliches Hilfsmittel beim Studium der Beziehung zwischen diesen sieben Globen.

Es sollte unbedingt beachtet werden, dass die Darstellung nicht die tatsächliche Art und Weise zeigt, wie die Globen der Erdkette angeordnet sind, vielmehr handelt es sich dabei um eine symbolische Darstellung bestimmter grundlegender Tatsachen der Planetenkette.

TP 8 Diagramm 1

Auf der mit I bezeichneten Ebene befinden sich die Globen A und G (die Buchstaben wurden nur aus praktischen Gründen gewählt). Das bedeutet, dass zwischen diesen beiden Globen eine gewisse Übereinstimmung besteht, die wir zum besseren Verständnis auch als eine Ähnlichkeit in der Schwingungszahl bezeichnen können. Dasselbe gilt für die Paare B und F, C und E. Globus D steht alleine auf der niedersten oder vierten kosmischen Ebene.

Die ganze Globenkette stellt die Bühne für die majestätische Pilgerfahrt von sieben großen Klassen von Wesen dar, die man gewöhnlich Lebenswogen nennt. Das ist ein passender Name, denn er vermittelt uns die wellenartige Bewegung dieser Lebensströme auf ihrem planetarischen Umlauf, wobei Perioden der Aktivität und Passivität einander abwechseln.

Diese Lebenswogen bestehen aus Lebewesen, aus Funken der göttlichen Flamme im Herzen des Universums; und jede Gruppe befindet sich in einem anderen Stadium ihrer evolutionären Entwicklung. Auf jedem Globus bekommen diese Wesen Gelegenheit, bestimmte Eigenschaften aus der Schatzkammer ihres eigenen, inneren Seins zu entfalten. Diese sieben Klassen werden folgendermaßen bezeichnet:

  • Drei Elementalreiche
  • Das Mineralreich
  • Das Pflanzenreich
  • Das Tierreich
  • Das Menschenreich

Diese Bezeichnungen werden lediglich verwendet, um diese Naturreiche in einfacher Weise beschreiben zu können. Denn die verschiedenen Klassen haben während der langen, langen Dauer ihrer irdischen Reise (deren Ende noch Millionen Jahre entfernt ist) eine unendliche Vielfalt von Veränderungen erfahren, und sie haben schon viele Millionen Jahre gebraucht, um so zu werden, wie wir sie jetzt kennen.

Wir können diese Reiche darüber hinaus als Häuser betrachten, welche von den unterschiedlichen spirituellen Wesen bewohnt werden. Ein sehr wenig entwickeltes Wesen, das seine evolutionäre Reise erst vor kurzem begonnen hat, würde in einem Haus elementalen Lebens wohnen. Ein anderes Wesen, das weiter fortgeschritten ist, würde seinem Wachstum entsprechend in einem Haus mineralischen Lebens wohnen und so weiter. Diese alten Häuser werden für besser geeignete aufgegeben, sobald sie nicht länger als angemessen empfunden werden. Es ist mit den sieben oder mehr Klassen einer Schule vergleichbar: Die Schüler selbst schreiten von Klasse zu Klasse weiter, wenn sie alles gelernt haben, was in einer Klasse vermittelt werden kann.

Wir werden uns der Einfachheit halber auf den Umlauf der menschlichen Lebenswoge um unsere Planetenkette beschränken. Damit meinen wir jene Gruppe von spirituellen Wesen, die nach vielen wunderbaren Verwandlungen, welche nur in den geheimen Berichten der initiierten Weisen aufgezeichnet wurden, heute die Bewohner von menschlichen Körpern sind, ausgestattet mit menschlichen Gehirnen, begabt mit menschlichen Empfindungen, menschlichen spirituellen und intellektuellen Fähigkeiten – kurz, die Mitglieder der gegenwärtigen großen Menschenfamilie.

Wenn wir zu dem Diagramm zurückkehren, sehen wir, dass die Globen mehr oder weniger in einem Kreis stehen. Das ist eine symbolische Darstellung der Art und Weise, wie die Lebenswoge die sieben Globen durchläuft. Beginnend mit Globus A auf der linken Seite durchläuft die Lebenswoge den Bogen nach unten durch die Globen B und C bis D. Das nennt man den schattenhaften oder absteigenden Bogen, was aber nicht einen Fall durch den leeren Raum bedeutet – denn das wäre absurd –, vielmehr bedeutet es, dass die Lebenswoge immer weiter in die Materie hinabsteigt. Auf jedem Globus hat sie eine sehr lange Entwicklungsphase und baut sich Körper aus zunehmend grobstofflicherer physischer Substanz auf. Das Materielle zieht die Lebenswoge magnetisch an, und die Reinheit ihres ersten Zustandes auf Globus A löst sich in eine immer schwächer werdende Erinnerung auf.

Mit Globus D ist der niederste Punkt erreicht, der Wendepunkt, an dem sich Materie und Geist im Gleichgewicht befinden und eine entscheidende Anstrengung verlangt wird, um die zur Fortsetzung der evolutionären Reise notwendige spirituelle Kraft wachzurufen – diesmal aufwärts durch die Globen E, F und G.

Mit Globus G hat die Lebenswoge aufs Neue die kosmische Ebene I (auf unserem Diagramm) erreicht, dieselbe Ebene, die ihr Ausgangspunkt war – aber mit einem Unterschied. Die hohe Spiritualität der Wesen auf Globus A kann man mit der Reinheit und Unschuld eines Kindes vergleichen. Auf Globus G begründet sich ihre Reinheit darauf, dass der Bodensatz der Materie sozusagen durch die reine Flamme der Spiritualität weggebrannt wurde. Es handelt sich also um eine mit Weisheit und Kraft angereicherte Reinheit.

Unsere menschliche Lebenswoge muss diese Erdkette sieben Mal durchlaufen, und jeden solchen Umlauf nennen wir eine Runde. Wenn die sieben Runden vollendet sind, werden wir mit unserer Erde unseren ‘Sabbath’ oder Ruhetag verbringen. Danach werden wir uns mit der Erde wiederverkörpern – auf der Suche nach noch großartigeren und edleren Abenteuern in unserem Universum der unerschöpflichen Möglichkeiten.

Wenn der ‘Ruhetag’ anbricht, zerfällt die Erdkette zu kosmischem Staub, aber ihre Lebenskräfte übertragen sich auf neue Zentren im Raum, um sich zur rechten Zeit wieder als neue Globenkette zu verkörpern, die auch den weniger entwickelten Lebenswogen die Gelegenheit geben wird, ihre unendlichen Möglichkeiten zu einer vollkommenen Menschheit hin zu entfalten.

Unsere menschliche Familie hat bis heute drei Runden vollendet. Wir befinden uns gegenwärtig in der vierten Runde, und zwar auf Globus D; aber wir haben den kritischen Wendepunkt dieses niedersten Globus überschritten. Diese Tatsache ist für die Rasse von enormer Bedeutung. Diese Lehre zu verstehen kommt einem Wegweiser gleich, der uns zeigt, in welche Richtung wir uns bewegen sollten. Wir beginnen dann, den wirklichen Wert der Dinge zu erkennen. Indem wir diese abstrakte Lehre in unserem täglichen Leben anwenden, lernen wir, worauf wir verzichten können und was wir als unvergängliche und praktische Werte für die Zukunft festhalten müssen. Wir beginnen einzusehen, dass unser Anhaften an materielle Dinge eine Gewohnheit geworden ist, die nicht länger notwendig ist, und dass wir – wenn wir gerne bei den Empfindungen, Aufregungen und Reizen dieses gewöhnlichen irdischen Lebens verweilen – wertvolle Gelegenheiten versäumen, die jetzt vor uns liegen. Wir übersehen dann, dass die Schwierigkeiten, die wir auf unserem Weg finden, tatsächlich die Hilfsmittel bilden – wenn wir sie überwunden haben –, durch die wir auf dem Weg zu unserer göttlichen Bestimmung vorwärts schreiten können.

Mensch und Natur – verbunden in zyklischem Fortschritt

Es liegt ein Zweck in jeder Handlung der Natur, deren Handlungen alle periodisch und zyklisch sind.

The Secret Doctrine, I : 640

Die Natur wiederholt sich überall. Sie folgt dem eingefahrenen Geleise der Tätigkeit, das bereits vorher gelegt wurde; sie folgt immer und überall dem Weg des geringsten Widerstandes. Und auf dieser Methode der Wiederholung unserer großen Mutter, der Universalen Natur, gründet das Gesetz von den Zyklen, also dem Geschehen von Ereignissen, die es früher gab, wenngleich jede solche Wiederholung, wie gesagt, bei jeder neuen Manifestation auf einer höheren Ebene stattfindet und ein größeres Tätigkeitsfeld umfasst.

– G. DE PURUCKER, Man in Evolution, S. 158

Die Natur bewegt sich wie ein großes, ständig kreisendes Rad, auf dessen Reise durch Zeit und Raum jede seiner Speichen regelmäßig an die Reihe kommt – aufwärts und vorwärts, abwärts und rückwärts. Während das Rad des Universums weiterrollt, kommt jedes seiner Atome voran, gewinnt Erfahrung und fügt dem allgemeinen Vorwärtsdrängen seinen Impuls hinzu. Im Menschen wird dieser evolutionäre Drang mehr oder weniger durch den Verstand und das Selbstbewusstsein natürlich verstärkt. Deshalb kann er den unterhalb von ihm stehenden Wesenheiten helfen, so wie ihm seinerseit von weiseren und größeren Wesen geholfen wurde.

Auf den ersten Blick scheint dieses großartige Bild des Fortschritts vielleicht zu unbestimmt und zu wenig vertraut, um uns zu interessieren oder zu berühren, selbst wenn wir es verstehen könnten. Natürlich übersteigen die Einzelheiten des Universums unser menschliches Fassungsvermögen. Dennoch zeigt sich das Gesetz der Zyklen in seinen universalen Auswirkungen so überdeutlich, dass es die Einheit von Mensch und Natur beweist, die sich mit einem gemeinsamen Ziel entwickeln. Es gibt viele vertraute Dinge in unserem täglichen Leben, die diese in der Natur wirkende Periodizität deutlich zeigen. Wir müssen nur den Ablauf des zyklischen Gesetzes, das sich vor unseren Augen abspielt, erkennen, um zu verstehen, dass es hinter dem Horizont unseres Gesichtskreises genauso wirksam ist. Für die periodische Wiederkehr von Tag und Nacht – eine Zeit des Wachens und Schlafens – braucht es keinen Beweis. Dieses vertraute und für uns so einfache Beispiel findet seinen Ursprung in der Umdrehung der Erde um ihre Achse – eine gewaltige Bewegung, die minutengenau abläuft. Es ist klar, dass niemand übersehen kann, was diese eine Umdrehung der Erde für alles, was sich darauf befindet, bedeutet. Für Land und Wasser, für alle Pflanzen, Tiere und Menschen ist nach jeder Umdrehung nichts mehr genau so, wie es am vorigen Tag war. Der springende Punkt ist, dass sich alle gemeinsam weiterbewegt haben, jedes der unzähligen Dinge hat seinen eigenen Erfahrungszyklus innerhalb der einen Umdrehung des irdischen Rades durchlaufen. Durch Anwendung der Analogie wird der Universalprozess der spiralförmigen Bahnen im Prinzip genau so einfach und verständlich wie das ABC und das Einmaleins aus unserer Kindheit. Dieselben Buchstaben, die wir in der ersten Klasse erlernen, werden von den Weisen gebraucht, um die tiefsinnigsten Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen; und die einfachen Zahlen, die wir für unser Kassenbuch benutzen, werden ebenso genau in wissenschaftlichen Berechnungen verwendet.

Die Wissenschaft von heute bewegt sich mit dem Strom des neuen Zyklus und studiert die wiederkehrenden Bedingungen nicht nur in den verschiedenen Gebieten der Naturkräfte und -phänomene, sondern auch im Ablauf des menschlichen Daseins. Die Wissenschaft beginnt sich sehr wohl der engen Beziehungen zwischen ihren eigenen Untersuchungen, dem täglichen Leben und dem allgemeinen Wohlergehen der Menschheit jetzt und in Zukunft bewusst zu werden. Außerdem gibt es eine wachsende Tendenz, die Resultate der Untersuchung der Periodizität des einen Wissensgebietes mit den Ergebnissen ähnlicher Forschungen auf anderen Gebieten zu vergleichen. Je weiter diese Untersuchungen sich erstrecken, um so deutlicher zeigt sich die fundamentale Einheit von Mensch und Natur. Um ein Beispiel zu geben: Man untersucht den Zusammenhang zwischen den Aktivitäten der Sonnenflecken und dem Wetter, dem Wachstum der Pflanzen, Kriegen, Schwankungen im Geschäftsleben, dem Radioempfang und so weiter.

Periodizität wird wahrgenommen und im Auftreten von Überschwemmungen, Trockenzeiten, Hungersnöten, Krankheiten, Katastrophen, magnetischen Stürmen, dem Polarlicht und Erdbeben aufgezeichnet; und ebenso beim Erscheinen großer Menschen und dem Fortschritt und Rückschritt auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft; beim Aufstieg und Niedergang von Nationen und ganzen Zivilisationen; bei den Veränderungen der kontinentalen Küstenlinien und von Bergen, die sich langsam heben oder senken; bei Eiszeiten, die kamen und gingen, und Beweise für frühere tropische Klimate in nördlichen Gebieten hinterließen; bei den auf die Jahreszeiten abgestimmten Gewohnheiten von Tieren und vieles mehr. Dieses wissenschaftliche Interesse spiegelt sich in der Tagespresse wieder. Das eröffnet den Weg zu mehr Kenntnissen über das alte Gesetz der Zyklen, das den Schlüssel zu allen Bewegungen in der Natur bildet.

Weder wissenschaftliche Ausbildung noch eine besondere Vorstellungskraft sind erforderlich, um zu erkennen, dass sich die wiederkehrenden irdischen Veränderungen unvermeidlich im Leben der Bewohner widerspiegeln. Das ist an sich eine bemerkenswerte Tatsache. Und der Beweis, dass Mensch und Natur miteinander verbunden sind und unter denselben Gesetzen evolvieren, ist genauso einfach wie verständlich. Der Wirkungsweise des Gesetzes der Periodizität kann man auf zwei Arten folgen – vom Kleinen zum Großen und umgekehrt.

Betrachten Sie die wiederkehrenden ‘Ereignisse’ von Zeit, Materie und bewusstem Leben. Nehmen Sie zunächst die kreisenden Atome, welche Moleküle formen und sich zu Zellen vereinigen, die ihrerseits die Organe des menschlichen Körpers aufbauen, der ein Menschenleben lang existiert. Beim Tod zerstreuen sich die Atome, um ihren Weg durch andere Formen irdischer Materie fortzusetzen. Wenn der Mensch an den Punkt gelangt, eine neue Inkarnations-Runde zu beginnen, vereinigen sich die Atome wieder, um beim Aufbau seines neuen Körpers zu helfen. Nehmen Sie als nächstes den bewussten Lebensfunken –den inneren Menschen –, der sich durch den heranwachsenden Körper des Embryos, des Säuglings, des Kleinkindes, des Jungen oder Mädchens und des Erwachsenen entfaltet, dann den alt gewordenen Körper verlässt und von seiner hiesigen Existenz in einen Zyklus in etherischeren Reichen übergeht. Die vorübergehenden Augenblicke werden mittlerweile zu Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, die ihrerseits zu Jahrhunderten, Sonnenperioden und vollständigen Runden eines Universums werden und so weiter.

Diese winzigen Zyklen von ‘Atomen’ der Zeit, von bewusstem, sich entfaltendem Leben und von Materie sind die Wirkung dessen im Kleinen, was wissenschaftlich als das Raum-Zeit-Kontinuum zusammengefasst wird. Am Ausgangspunkt eines Universalzyklus beginnen diese Teile sich aus der Einheit heraus zu trennen und zyklisch nach unten zu bewegen – durch die aufeinander folgenden Reiche hindurch, bis hinein in die allerkleinsten Zyklen. Ob man das Große oder das Kleine betrachtet – alles folgt dem einen Plan des Fortschritts: Substanz wird vollkommenere Materie, kurze Zyklen werden zu längeren Perioden; und der sich wiederverkörpernde Mensch bringt mehr von seinem wahren, seinem unsterblichen Selbst, hervor. Eine lebendige, überall zirkulierende Kraft spornt alles dazu an, ‘sich selbst’ mehr zu verwirklichen.

Es ist das Eine Leben selbst, das in all den verschiedenen Formen der Substanz immer wieder kommt und geht. Es hat seine Bestimmung in einem endlosen Zyklus von Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung seiner Formen. In der Erkenntnis dieser Tatsache haben einige große Denker die Geheimnisse der Natur mit dem Wort Bewegung zusammengefasst. Die Theosophie fügt dem hinzu, dass diese universale Bewegung eine Antwort auf den Rhythmus eines kosmischen Herzschlags ist. Die Antwort jedes Wesens auf diesen vitalen und zentralen Impuls ist sein eigenes, charakteristisches Schwingungsmuster. Alle inneren und äußeren Lebenssphären über, unter, um und in uns werden von einer bestimmten Schwingungszahl gekennzeichnet. Die Wissenschaft definiert die subtilen Kräfte der Röntgenstrahlen, des infraroten und Ultravioletten Lichts, die Radiowellen und so weiter durch die ihnen eigenen Frequenzen. Wir wissen alle, dass die verschiedenen Wellenlängen von Licht die prismatischen Farben verursachen und dass wir in einer Tonleiter eine Reihe verschiedener Schallwellen hören. Haben nicht auch wir eine eigene Schwingungszahl, die abwechselnd in Harmonie und dann wieder nicht in Harmonie mit den Bedingungen und Menschen um uns ist?

Die Natur hat ein erhabenes Ziel; dahinter steht eine kosmische Intelligenz, die das menschliche Schicksal auf das der universalen Mutter Natur einstimmt. Die alten Weisen verstanden diese mystische Wahrheit, sowohl in ihren einfachen wie auch in ihren erweiterten Bedeutungen. Sie erkannten in allem und in jedem Lebewesen das Wirken eines Universalgesetzes. Von alters her wurde gelehrt, dass der Mensch von allen natürlichen Vorgängen betroffen und an ihnen beteiligt ist, weil er einen untrennbaren Teil des Universums bildet. Diese Kenntnis ‘der Dinge, wie sie sind’ befreite die Menschen von der Angst vor dem Tod und von aller Furcht vor einem Jenseits des Leidens oder einem endgültigen Vergessen. Sie fürchteten nicht länger das Unbekannte, da sie ihre Einheit mit der Sonne, den Sternen und mit dem ganzen sich entfaltenden Panorama ihrer irdischen Heimat fühlten. Diese sorglose Zeit existierte im Goldenen Zeitalter, als die Erde jung war. Jetzt klingt das wie ein Märchen. Nun, die Märchen und Legenden, die unsere Kinder so gerne hören, beruhen auf Wirklichkeiten, in denen wir als junge Rasse existierten. Wenn diese Ideale niemals für uns real gewesen wären, wie könnten wir dann so spontan darauf reagieren, wie das der Fall ist, und sie durch die Jahrhunderte in Mythen und Legenden lebendig erhalten?

Einige unserer intuitiven Philosophen und Wissenschaftler erkennen allmählich, dass es eine Einheit geben muss, sogar eine bewusste Einheit, die allen Dingen zugrunde liegt. Diese Erkenntnis einer Naturwahrheit wurde schon vor rund einem Jahrhundert vorausgesehen, als H. P. Blavatsky in ihrem Werk Die Geheimlehre die vergessene Geschichte über den Ursprung und die Bestimmung des Menschen, des Planeten und des Universums wiederholte. Sie kam, weil die Zeit für uns reif war, etwas von unserem vergessenen Geburtsrecht der größeren Wahrheit zurückzugewinnen. In der gegenwärtigen Periode – dem Eisernen Zeitalter – haben wir ein wertvolles Erbe aus einer fernen Vergangenheit aus den Augen verloren und uns von der Natur gelöst. Das hemmte unser inneres Wachstum und trübte unsere Sichtweise des Lebens. Der Mensch hat sich von der Rolle, welche er in diesem Planeten-Drama spielen sollte, mental zurückgezogen. Er steht anscheinend abseits der nicht-menschlichen Dinge, die er als etwas für ihn Fremdes, wenn nicht sogar Feindliches, betrachtet. Und doch ist alles auf der Lebensleiter unter ihm auf dem Weg, Mensch zu werden, so wie er selbst schließlich dem menschlichen Stadium entwachsen wird, um die Ebene der Menschen-Götter zu erreichen, die ihm vorausgingen. Alles was ist, bewegt sich vorwärts – entlang einer der Windungen einer gewaltigen Spirale. Alle haben am gemeinsamen Wohlergehen anteil und allen wird geholfen, so dass allen – durch die Bewegung in Einklang mit dem Ganzen – geholfen wird. Das Universum ist in seinem Herzen freundlich.

Dem ursprünglichen Plan gemäß standen der Mensch und sein irdisches Zuhause anfangs unter der Obhut göttlicher Lehrer. Es handelte sich dabei um eine spirituelle Elternschaft, die der jugendlichen Menschheit einen guten Anfang bot. Später, als der Mensch selbstbewusst wurde und Kenntnis von Gut und Böse erlangt hatte, wurde er in moralischer Hinsicht für den Einfluss, den er auf sein irdisches Zuhause ausübte, verantwortlich. Die Sorge für alles wurde ihm übertragen, denn nur in ihm war das Feuer des Denkens entzündet, das ihm Einsicht und Vernunft verleiht. Sein Körper wurde aus demselben Stoff gemacht wie der von Mutter Erde, die ihn immer ernähren, kleiden und beschützen musste. Auch die elektromagnetischen und andere Naturkräfte wirkten in ihm und brachten ihn innerlich mit allem in Berührung.

Es war die Aufgabe der Natur, alle Formen aufzubauen, die nützlich und schön und notwendig waren, um dem durch alle Reiche zirkulierenden, unsichtbaren Lebensstrom Körper zu verleihen. Allmählich sorgten die Urkräfte und Stoffe für die Verdichtung und die Entstehung von etherischen Modellformen, die ihrerseits Urbilder von höheren schöpferischen Ebenen darstellten. Diese Astralmodelle aller Wesen und Dinge waren – und sind es heute noch – die Bindeglieder zwischen den spirituellen und materiellen Ebenen und verursachten Reaktionen zwischen den beiden Reichen. So wurde der Stoff der Erde auf subtile Art von den kräftigen Energien bewussten menschlichen Denkens, Wollens und Fühlens beeinflusst.

Durch die enge Verbindung des Menschen mit den unter ihm stehenden Reichen und seine Herrschaft über sie hat die Natur notwendigerweise auf den Einfluss und die Art seiner Führung reagiert. Das frühe kindliche Stadium des Menschen spiegelte sich in einer glücklichen ‘Garten Eden’-Atmosphäre wider. Später, als er seinen selbstsüchtigen Gedanken und Begierden freien Lauf ließ, reicherte sich die ihn umgebende Atmosphäre mit den ungeordneten Kräften von Stürmen, Krankheiten und Feindschaft an. Die Existenz dieser in Vergessenheit geratenen Verwandtschaft zwischen dem menschlichen Meister und den submenschlichen Reichen hat in der Geschichte der gewaltigen Zyklen von Runden und Rassen auf den verschiedenen Kontinenten immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch unsere eigene Geschichte weist Beispiele dafür auf. War nicht der wenig reinliche Umgang mit dem Körper und seiner Umgebung der Auslöser der Pest im Mittelalter? Ist nicht die Zunahme von Geistes- und Nervenkranheiten in unserer Zeit die typische Reaktion unseres komplizierten Gehirn- und Nervengewebes auf die kräfteraubenden Spannungen des modernen Lebens? Werden nicht die heutigen Umbrüche in der Weltpolitik und so weiter in einem ungewöhnlichen Durcheinander der Naturkräfte widergespiegelt?

Jede neue Wurzelrasse (siehe Kapitel ‘Runden und Rassen’) begann mit einer verjüngten Erde, unter günstigem Klima, mit Frieden unter den Menschen und zwischen Mensch und Tier. Wurde eine Rasse massenhaft selbstsüchtig, grausam und kriegerisch, wurde das Klima hart, fruchtbares Land verkam zur Wüste und die Tiere wurden feindselig. Alle Wurzelrassen, die der Reihe nach in das materielle Leben abstiegen, prägten die Erde ihrer Art entsprechend. Die dominierende Eigenschaft der ersten Rasse war die des Goldenen Zeitalters, die der zweiten wies die dominierende Eigenschaft des Silbernen Zeitalters auf, die des Bronzenen Zeitalters war der dritten eigen, und die vierte schließlich wies die dominierenden Merkmale des Eisernen Zeitalters auf; aber jede Wurzelrasse durchlief individuell eine Entwicklung durch die komplette Reihe dieser vier Perioden.

Die Wissenschaft, welche die auffallenden klimatischen und geologischen Veränderungen der Vergangenheit untersucht, sieht darin selbstverständlich Faktoren, die den Menschen zu Veränderung und Anpassung zwangen. Die größere Wahrheit ist, dass – ob die Veränderung nun in einem auf- oder absteigenden Zyklus stattfand – die davon betroffenen Menschen die Folgen dessen ernteten, was sie selbst einmal in ihren Beziehungen zueinander und zur Natur gesät hatten. Es ist möglich, dass man dazu viele, viele Leben zurückgehen muss. Das karmische Gesetz, das die irdischen Naturkräfte benutzte, verursachte eine Periode mehr oder weniger günstiger Umstände. Desgleichen ist es die Ursache dafür, dass der Mensch zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort inkarniert, wo er hingehört. Die Egos wurden zu einer passenden Zeit und an einer geeigneten Stelle geboren, ob es sich nun um eine aufkommende oder eine zu Ende gehende Eiszeit oder andere geologische Auf- und Abstiege handelte. Der Mensch ist kein hilfloses Werkzeug der Elemente. Er ist verhältnismäßig frei, die Dinge nach den Wünschen des Verstandes und des Herzens zu gestalten; und ganz allgemein gesagt ist er es, der seine Welt zu dem macht, was sie ist. Deshalb geben ihm seine Schöpfungen, die karmisch seinen allgemeinen Charakter widerspiegeln, einen Schlüssel zu Selbstkenntnis, der auch der Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur ist.

Auch wenn diese wunderbare Wahrheit, dass der Mensch zusammen mit allem anderen Teil einer kosmischen Einheit ist, das Auffassungsvermögen des Verstandes übersteigt, liegt diese Wahrheit nicht außerhalb des Bereichs der Intuition. Der innere Mensch erinnert sich an alles, was in seinen früheren Leben vorgefallen ist. Das ist die Schatzkammer des Wissens, von der ein bildender Künstler oder ein Dichter von Zeit zu Zeit einen Schimmer erhascht und die nicht nur ein Produkt seiner Fantasie ist. Im Gegenteil, es geht darum, dass der Mensch sich dessen bewusst wird, dass in ihm – in nicht-menschlichen Formen verborgen – ein alles durchdringendes Element einer Verwandtschaft mit etwas Stillem und Namenlosem vorhanden ist.

Der Dichter sucht nach Worten, die für andere ein Zeugnis seines Einsseins mit einer Wirklichkeit ablegen, welche sowohl die Erde als auch den Himmel durchdringt. Aber Worte reichen nicht aus. Es ist ein inneres Gefühl der Einheit, das nur von einem Menschenkind erfahren werden kann, das mit Mutter Natur in harmonischem Einklang steht, mit der es die Zeitalter hindurch die Zyklen auf der Erde miterlebt hat. Diese Liebe für die Natur wurzelt in grauer Vorzeit – eine spirituelle Erinnerung an ein Ur-Bündnis.

Die meisten von uns sind jedoch weder Dichter noch Mystiker. Das logische Denken verlangt nach grundlegenden Beweisen dafür, dass überall Zyklen wirken. Wenn wir vertraute Dinge zu beobachten beginnen, stellt sich heraus, dass wir diese Periodizität überall wahrnehmen können. Nehmen wir zuerst das Wasser: Der Ozean bringt mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks überall auf der Welt Ebbe und Flut mit sich, wie ein riesiges Atemschöpfen. Die Wellen brechen sich an der Küste ungefähr in dem Tempo, in dem wir atmen; diesen Rhythmus kann keine menschliche Kraft ändern. Das Regenwasser, das die Erde durchtränkt, von Bäumen und Pflanzen aufgenommen wird und als Dampf aufsteigt, verdichtet sich zu Wolken, Regen und Schnee und kehrt so wieder auf seinem Pfad zurück, um damit den heranwachsenden Dingen zu helfen, die uns ernähren, kleiden und schützen. Die Säfte der Pflanzen steigen aus ihren allzeit tätigen Wurzeln empor und arbeiten zur Förderung des Wachstumsprozesses mit dem Sonnenlicht zusammen, um dann wieder direkt oder nach Vollendung des Zyklus ihren Weg zur Erde zurückzufinden. Der Lebenssaft der Bäume arbeitet in Einklang mit den Jahreszeiten an der jährlichen Feier von neuen Blättern, Blüten und Früchten; und dann zieht er sich wieder zurück um zu ruhen, bevor eine neue Periode der Aktivität beginnt. Nur die Einheit, der ein gemeinsames Ziel zugrunde liegt, kann diesen harmonischen und stetigen Strom von Lebenskräften gewährleisten. Der kleine Grashalm hat – genauso wie der riesige Baum – seinen eigenen Pulsschlag. Diese tagtäglichen Mysterien sind so allgemein, dass wir das Wunder übersehen.

Sogar eine verhältnismäßig niedrige Lebensform, die sich vorübergehend in einer Raupe verkörpert, beendet nach kurzer Zeit ihre Periode des Kriechens. Dann baut sie sich einen kleinen Kokon und löst sich in etwas auf, das nicht mehr ist als ein protoplasmisches Gelee. Aus dieser formlosen Masse nimmt sie die Form eines zierlichen Schmetterlings an, um als Bewohner der Lüfte, vom Honig der Blumen nippend, eine neue Lebensrunde zu beginnen. Seine kleinen Eier legt er zu einem Zeitpunkt, der den dreifältigen Zyklus der Formveränderung ermöglicht. Der rhythmische Lebenslauf dieses winzigen Insekts ist auf seine Weise ebenso wunderbar wie der von Passatwinden und Strömungen des Ozeans, die stets ihren eigenen Wegen folgen.

Wir finden es selbstverständlich, dass sich der irdische Film im Laufe der Jahreszeiten regelmäßig abspult – von der Winterkälte, die in das Frühjahr übergeht, vom Erwachen der Dinge, die im Sommer reifen und im Herbst geerntet werden, um den jährlichen Kreislauf von Erfahrung und Fortschritt zu vollenden. Inzwischen hat das große Rad der Erde seine eigene Bahn beschrieben, die so abgestimmt ist, dass beim Passieren des Frühlingspunktes genau fünfzig Sekunden gewonnen sind. Dieses winzige Zeitteilchen ist sozusagen der Same des platonischen großen Jahres, eines Zyklus von 25.920 unserer Jahre. Die natürliche Bewegung von kleinen Rädern innerhalb mächtiger Räder erinnert uns an das alte hermetische Sprichwort: „Nichts ist groß, nichts ist klein in der göttlichen Ökonomie.“ Die Astronomen sprechen von ‘pulsierenden Sternen’, die unsere Sonne in Bezug auf Größe und Glanz ganz und gar in den Schatten stellen. Alle Himmelskörper sind auf das kosmische Uhrwerk abgestimmt, welches das kreisende Universum reguliert.

Die sogenannten ‘Naturgesetze’ sind rhythmische Auswirkungen von gemeinsamen Willensäußerungen großer himmlicher Wesen, die in Harmonie mit dem göttlichen Willen tätig sind. Wir sind buchstäblich lebende Zellen im Organismus eines großen Wesens, so wie wir die Leiter und das Gesetz für Trillionen von in unserem Körper evolvierenden Zellen sind. Überall findet man das gleiche Muster und das gleiche Ziel.

Diese unsichtbare, aber intelligente Führung, die in der Natur mit so großer Regelmäßigkeit wirkt, liegt allen Phänomenen zugrunde, die nicht durch ‘reinen Zufall’, durch ‘natürliche Zuchtwahl’ oder durch aktive chemische Verbindungen erklärt werden können. Nehmen wir zum Beispiel den Zug der Vögel. Wie wissen die Vögel, wann sie mit ihrer Reise beginnen sollen oder wohin sie fliegen müssen? Wie können sie ihren Weg über enorme Distanzen finden, ohne zu rasten, und dann noch überleben? Manchmal zieht die jüngste Generation, selbst auf ihrer ersten Reise, von den anderen getrennt und auf einer anderen Strecke zu ihren fernen Brutstätten. Dass diese Vogelzyklen durch ‘Instinkt’ geregelt werden, erklärt etwas derartig Zweckmäßiges nicht. Diese nicht selbstbewussten Wesen reagieren instinktiv auf einen alten Impuls, der dieser Art stark eingeprägt wurde.

Die Idee, das Polargebiet wäre das ursprüngliche Zuhause von dort brütenden Vögeln, hat man mit der präglazialen Periode in Zusammenhang gebracht, als der hohe Norden ein frühlingshaftes Klima aufwies. Diese Theorie bezieht sich auf die Vor- und Rückwärtsbewegungen der letzten großen Eiszeiten, die ihre Spuren auf dem Körper der Erde zurückgelassen haben. Den Beweis für die radikalen Veränderungen findet man in den Fossilien von Pflanzen und Tieren. Natürlich veränderte sich mit den Bewegungen der trostlosen Eiswüsten auch das menschliche Leben. Vielleicht ist die merkwürdige Anziehungskraft des ‘hohen weißen Nordens’, die manche arktische Entdeckungsreisenden verspüren, das Erwachen einer alten Erinnerung an ihr ‘Zuhause’, als die Rasse noch jung war. So wie bei den Zugvögeln, die einer alten Naturgewohnheit folgen, schlummert tief in manchem von uns menschlichen Zugvögeln etwas Ähnliches.

Ein anderes Beispiel für unterhalb des menschlichen Reiches stehende Wesen, die mit der Flut schöpferischer Lebensströme mitschwimmen, finden wir in der Wanderung mancher Fische und anderer Tiere. Die Lachse, die tausende Kilometer stromaufwärts schwimmen, kommen mager und erschöpft an den Laichplätzen an. Sie scheinen von einer Gewohnheit angetrieben zu werden, die ihrer Art am Anfang eingeprägt wurde. Offensichtlich behalten sie den Eindruck einer früheren natürlichen Heimat, der so alt ist, dass die Erde seitdem ihr Aussehen geändert hat.

Der Zug der nordeuropäischen Lemminge ist ebenfalls ein solches Naturrätsel. Mit unregelmäßigen Unterbrechungen strömen diese kleinen Nagetiere massenweise aus den Bergen in die Ebenen herunter und fressen dabei alle Pflanzen auf ihrem Weg. Ungeheure Mengen von ihnen schwimmen ins Meer, wo sie umkommen. Dieses zum natürlichen Selbsterhaltungstrieb in Widerspruch stehende Verhalten wird von H. P. Blavatsky erklärt, indem sie Folgendes darüber sagt:

Tatsächlich kommen sie aus allen Teilen Norwegens, und ein mächtiger Instinkt, der durch die Zeitalter als ein Erbe ihrer Vorfahren fortbesteht, treibt sie an, einen Kontinent zu suchen, der einst existierte, aber jetzt unter den Ozean versunken ist, und ein wässriges Grab zu huldigen.

The Secret Doctrine, II: 782

Diese Geschehnisse in der Tierwelt zeigen Spuren früherer ‘Pfade der Vergangenheit’, die dem Körper der Erde eingeprägt sind. Untersuchungen des Meeresbodens habe viele alte Flussbetten nachgewiesen. Auch unsere eigenen Körper weisen Überreste von Organen auf, die wir nicht mehr benötigen. Sie sind der biologische Beweis für vollkommen andere Zustände im menschlichen Körper bei alten Rassen. Die Natur um uns erzählt die Geschichte einer wunderbaren Vergangenheit, die tief in uns mit der Gegenwart verbunden ist – wie Inseln, die unter dem Meeresspiegel mit dem Festland verbunden sind.

Schlaf und Tod

Die Ähnlichkeit zwischen Schlaf und Tod hat die Denker aller Zeiten beeindruckt. Die alten Griechen hatten ein Sprichwort: „Schlaf und Tod sind Brüder.“ Denn der Tod stellt das gleiche Phänomen dar wie der Schlaf – nur in einem größeren und tieferen Ausmaß. Wir wissen alle, dass der Schlaf ein zeitlich begrenzter Zustand ist, weil wir ihn verstehen oder uns einbilden, es zu tun. Den Tod betrachten wir jedoch als das Lebensende, obwohl wir ihn eigentlich nicht in dieser Weise mit dem Leben in Zusammenhang bringen sollten. Wir sollten nicht ‘Leben und Tod’ sagen, sondern Geburt und Tod. Bei der Geburt denken wir nicht an etwas Endgültiges, weil wir wissen, dass ihr der Tod folgt. Aber die Theosophie zeigt uns, dass auch der Tod nichts Endgültiges ist. Der Tod ist nicht nur eine Geburt des spirituellen Menschen auf einer höheren Daseinsebene, sondern dem Tod folgt schließlich die Wiedergeburt des Menschen auf der Erde. Die große, fortdauernde Tatsache ist also Leben oder Bewusstsein; und Geburt und Tod sind lediglich rhythmische Ereignisse im endlosen Kreislauf der bewussten Evolution aller Dinge.

Schlafen und Wachen stellen ebenfalls rhythmische Ereignisse dar, durch die in diesem Leben unsere persönliche Entwicklung bestimmt wird. Wenn wir uns selbst nur im Lichte der Theosophie genauer beobachten und den Tod mehr in Zusammenhang mit den Erfahrungen unseres gewöhnlichen Bewusstseins bringen würden, wäre er nicht länger solch ein düsteres und hoffnungsloses Rätsel. Sobald wir den Tod als einen verständlichen Teil unserer Evolution und als bedeutungsvoll und reich an neuen Entdeckungen für Verstand und Herz betrachten, fügt das Studium des Todes unserer spirituellen Geschichte ein neues und interessantes Kapitel hinzu.

Nach dem alten griechischen Sprichwort sind Schlaf und Tod Brüder. Sie sind jedoch nicht nur Brüder, geboren aus der gleichen Struktur des menschlichen Bewusstseins, sondern sie sind in voller Wahrheit eines, identisch. Der Tod ist ein vollkommener Schlaf mit seiner Art von zwischenzeitlichem Erwachen, wie zum Beispiel im Devachan, und einem vollen menschlichen Erwachen in der darauf folgenden Reinkarnation. Der Schlaf ist ein unvollständiger Vollzug des Todes, … .

Nachts schlafen wir und deshalb sterben wir nachts teilweise. Man kann tatsächlich noch weitergehen und sagen, dass der Schlaf und der Tod und alle die verschiedenen Prozesse und Realisationen der Initiation nur verschiedene Phasen oder Vorgänge des Bewusstseins sind, abgewandelte Formen derselben fundamentalen Sache. Der Schlaf ist größtenteils eine automatische Funktion des menschlichen Bewusstseins. Der Tod ist das gleiche, aber in einem viel größeren Ausmaß. Er ist eine notwendige Verhaltensweise des Bewusstseins, damit sich der psychische Teil der Konstitution ausruhen und die Erfahrungen assimilieren kann.

… Der einzige Unterschied zwischen Tod und Schlaf ist das Maß. Genauso wie im Tod wird das Bewusstsein während des Schlafs, nach einer kurzen Periode vollständiger Unbewusstheit, zum Sitz oder aktiven Brennpunkt bestimmter Formen innerer mentaler Aktivität, die wir Träume nennen.

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:169/170

Wenn wir nun unseren verschiedenen Bewusstseinszuständen ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken, entdecken wir noch einen anderen wertvollen Schlüssel. Was meinen wir mit ‘Bewusstseinszuständen’? Viele von uns betrachten sich selbst selten als etwas anderes als einen durch ein physisches Gehirn belebten Körper. Wir dringen nicht tief genug in unser eigenes Innenleben ein, um zu begreifen, dass unser wahres Wesen aus Bewusstsein besteht, das sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Teilen unserer Konstitution konzentriert. Das kann man sehr leicht verstehen, wenn man über die Tatsache nachdenkt, dass sogar unser normales Alltagsleben aus verschiedenen Bewusstseinszuständen gebildet wird, die so unterschiedlich sind, wie es nur geht.

Manche dieser ‘Zustände’ oder Funktionen unseres Bewusstseins sind emotional – wie Wut, Trauer, Glück oder Aufregung; mitunter sind sie rein intellektuell, wie in der Arbeit eines Wissenschaftlers oder eines Schriftstellers; ein anderes Mal, wenn wir hungrig oder müde sind oder einen schmerzhaften Unfall hatten, konzentrieren wir uns gänzlich auf den Körper. In der Nacht wandert unser Bewusstsein zu wieder anderen, noch weniger bekannten Funktionen oder Aspekten von uns.

Fast jeder hat schon einmal bei einem Spaziergang, beim Lesen oder im Gespräch erlebt, dass ihm etwas auffällt, was ihn plötzlich lebhaft an einen Traum in der letzten Nacht erinnert; oder dass er beim Erwachen ganz von einem bestimmten Traum erfüllt ist, der ihm momentan klar und deutlich vor Augen steht, der aber später mit der Rückkehr des Tagesbewusstseins völlig verblasst. Im ersten Fall hätten wir uns ohne den äußerlichen Anlass vielleicht nie an den Traum erinnert. Beide Fälle zeigen uns, dass es Erfahrungen im Bewusstsein gibt, von denen wir normalerweise nichts wahrnehmen, die aber auf ihrer eigenen Ebene genau so lebendig wie die des Bewusstseins im Wachzustand sind. Wieviele solcher Erfahrungen kann der innere Mensch wohl schon gemacht haben, an die sich das Selbst im Wachzustand niemals erinnert! Dennoch gibt es sie und sie waren in jenem Augenblick genauso real wie im Wachzustand, genauso wirklich wie die infraroten und ultravioletten Strahlen, die wir niemals sehen. Darüber hinaus tragen diese Erfahrungen ihren Teil zu dem bei, was wir jetzt sind. Und darin liegt der Schlüssel, von dem wir vorher gesprochen haben.

Wenn wir also den Tod verstehen wollen, müssen wir unser eigenes Bewusstsein studieren, wir müssen uns selbst kennen, denn Bewusstsein ist die fundamentale Tatsache des Universums. Die moderne Wissenschaft, die solange davon überzeugt war, Bewusstsein sei nichts anderes als ein Nebenprodukt der Materie, ändert nun allmählich ihre Meinung. Männer wie Einstein, Planck, Eddington, Jeans, Lodge und Millikan begannen, über Bewusstsein als die Realität hinter allen Phänomenen zu sprechen. Von den oben genannten wollen wir zwei Aussagen zitieren, die 1931 im Londoner Observer erschienen. Das erste Zitat ist von Max Planck, den man zu seiner Zeit als einen der besten und innovativsten Forscher betrachtete:

… Ich betrachte Bewusstsein als grundlegend. Ich betrachte Materie als von Bewusstsein abgeleitet. Wir können nicht hinter das Bewusstsein vordringen. Alles, worüber wir sprechen, alles, was wir als existierend betrachten, setzt Bewusstsein voraus.

The Observer, London, 25. Januar 1931

Sir James H. Jeans, ein anderer innovativer wissenschaftlicher Forscher von damals, brachte den gleichen Gedanken in fast identischer Weise zum Ausdruck:

Ich neige zu der idealistischen Theorie, dass Bewusstsein grundlegend ist und das materielle Universum daraus hervorgeht – und nicht umgekehrt. … Es kann sehr wohl sein, so scheint mir, dass jedes individuelle Bewusstsein mit einer Gehirnzelle in einem universalen Denkvermögen verglichen werden sollte.

The Observer, London, 4. Januar 1931

Mit den oben erwähnten Grundgedanken stimmt die Alte Weisheit völlig überein. Sie hat sie gelehrt, so lange der Mensch existiert. Jetzt allerdings beginnen wir zu erkennen, wohin diese Idee uns führt: Wenn Bewusstsein die fundamentale Wirklichkeit des Universums ist und der Mensch ein individuelles Zentrum dieses Bewusstseins, weist ihn das als ebenso real und unzerstörbar aus wie das Universum. Er ist ein Tröpfchen des Universalen Lebens.

Das Universum besteht tatsächlich aus Bewusstsein und erstreckt sich in unzähligen Abstufungen vom Menschen abwärts zu den niederen Reichen bis zum Elektron und noch weiter abwärts; dann aufwärts vom Menschen bis zum Göttlichen über ihm – eine endlose Reihe hierarchischer Wesen, von denen der Mensch ein integraler Teil ist. Wir sind Teile eines lebendigen Ganzen, und solange das Universum existiert, können wir und alle anderen es zusammensetzenden Wesen nicht aufhören zu existieren. Wir sind Teilhaber an seiner Kontinuität.

Diese Idee wird in der theosophischen Literatur immer wieder betont. In The Esoteric Tradition, S. 144, sagt G. de Purucker:

Denn das Universum ist ein riesiger Organismus; alles, was sich darin befindet, sind untrennbare, weil inhärente, Bausteine. Der Mensch ist deshalb gleichfalls ein untrennbarer Teil davon und enthält somit auch alles in sich, was das Universum enthält … . Jede Energie, jede Substanz, jede Bewusstseinsform in den Unendlichkeiten des grenzenlosen Raumes ist in ihm – latent oder aktiv, je nachdem. Deshalb kann er wissen, indem er dem Pfad folgt, der immer weiter zu seinem Inneren führt, und noch weiter nach innen, bis hin zu seinem essentiellen Selbst, zu seinem Geist, der ein Strahl des Universalen ist. Auf diese Weise erlangt er Kenntnis der Realität aus erster Hand.

Im Zusammenhang mit der Ähnlichkeit zwischen Schlaf und Tod sagt er:

Wenn jemand wissen möchte, wie es ihm beim Sterben ergeht oder was er im Augenblick des Todes wahrnimmt, möge er, wenn er sich schlafen legt, sein Bewusstsein mit seinem Willen fassen und die wirklichen Vorgänge seines ‘Einschlafens’ studieren – falls er es fertigbringt. Es ist recht einfach, das zu tun, wenn man die Idee erfasst hat und sich mit der Praxis der Übung mehr oder weniger vertraut gemacht hat.

– Ebenda, S. 832-3

Wenn wir die tiefer gehenden Probleme des Lebens lösen wollen, müssen wir uns selbst umerziehen. Meistens identifizieren wir uns mit unserem persönlichen Bewusstsein, das heißt mit jenen mentalen und emotionalen Aspekten, die sich auf Selbstsucht oder persönliche Wünsche konzentrieren. Wenn der Mensch die Mysterien von Leben oder Tod verstehen will, muss er sich selbst studieren – als ein Zentrum spirituellen Bewusstseins, als göttlichen Pilger, der dem glorreichen Pfad der selbstgeleiteten Evolution folgt.

Was ist Evolution?

Huxley formulierte die Antwort auf diese Frage folgendermaßen: „Evolution oder Entwicklung wird heute in der Biologie als allgemeiner Begriff für die Abfolge der Schritte gebraucht, mit welchen jedes Lebewesen den morphologischen und physiologischen Charakter erwirbt, durch den es sich von allen anderen Lebewesen unterscheidet.“ Die Theorie besagt, dass die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten sich entwickelten, indem sie sich hinsichtlich der Abstammung in einem gewissem Maß von den vorangegangenen Typen unterscheiden. Auch der Mensch, von dem man annimmt, dass er zum Tierreich gehört, soll sich in dieser Weise aus niedereren Arten des Tierreiches entwickelt haben. Die allgemeine Richtung dieser Evolution verlief stets von einfacheren zu komplizierteren und höher organisierten Formen; manchmal jedoch nimmt man eine entgegengesetzte Bewegung wahr. Man versucht, die Spur dieser Reihe der sich entwickelnden Typen bis zu einzelnen, sehr einfachen Formen oder sogar einzelligen Organismen zurückzuverfolgen. Lamarck ist ein prominenter Gelehrter, sein Name ist mit diesen Ideen verbunden. Er war der Meinung, dass die in den Organismen stattfindenden und zu ihrer Evolution führenden Veränderungen Reaktionen auf die Umgebung dieser Organismen darstellen. Diese Theorie wurde von Charles Darwin weiterentwickelt und ist heute unter dem Namen Darwinismus bekannt. Er geht davon aus, dass Organismen danach streben, Nachkommen zu erzeugen, die von ihren Eltern nur in geringem Maß abweichen, und dass der Prozess der natürlichen Selektion darauf ausgerichtet ist, das Überleben derjenigen Individuen zu fördern, die durch ihre besonderen Eigenschaften optimal an ihre Umgebung angepasst sind. Das ist die Lehre vom Überleben des Stärkeren.

Das bedeutet, dass die höheren Organismen sich aus den niedrigeren Arten entwickelt haben, indem sie allmählich kleine Veränderungen erfuhren; diese kleinen Veränderungen wurden bei der Fortpflanzung von den Eltern an die Nachkommenschaft weitergegeben. Die Veränderungen kommen durch Einwirkungen der Umwelt (Klima, Nahrung, Feinde, usw.) auf den Organismus zustande, wodurch er dazu gezwungen wird, sich seiner Umgebung besser anzupassen. Einige der auf diese Weise zustande gekommenen Mutationen konnten nicht überleben und nur derjenige hat eine Chance, der sich den Lebensumständen am besten anpasst und standhält; auf das Gesamte bezogen folgt daraus, dass die Evolution eine zu immer höher entwickelten Formen steigende Linie aufweist. Was die hinter diesem Evolutionsprozess stehende Ursache, den Sinn und den Zweck betrifft – darüber lässt uns die darwinistische Evolutionstheorie im Ungewissen. Sie zeigt uns einen mechanistischen, durchgängigen Prozess, von dem nicht bekannt ist, wie und wodurch er in Gang gesetzt wurde und was seine Bestimmung ist. Kurzum, sie stellt das Leben als einen mechanistischen Prozess dar, ohne Seele oder Geist, ohne Sinn oder Ziel. Und das ist es, was die Ablehnung verursacht, die viele Menschen dieser Theorie gegenüber empfinden.

Seit Darwins Zeiten hat man sich umfassend mit dieser Thematik beschäftigt, und viele seiner Thesen wurden angezweifelt; aber generell wird seine Evolutionstheorie immer noch aufrechterhalten. So wird heute der natürlichen Selektion als einem Evolutionsfaktor eine geringere Bedeutung beigemessen. Weit mehr als am Anfang neigt man heute zu der Annahme, dass natürliche Selektion eigentlich ein Resultat bezeichnet und dass bestimmte im Dunkeln liegende oder unbekannte Ursachen dazu führen. Deshalb ist es unlogisch, die natürliche Selektion als einen verursachenden Faktor zu bezeichnen.

In der etablierten Wissenschaft ist es üblich, eine vorläufige Hypothese zu formulieren, um damit bestimmte beobachtete Fakten zu erklären; und von Zeit zu Zeit ändert man diese Hypothese, wenn neue Fakten ans Tageslicht kommen. Aber das menschliche Denken hat eine Schwäche für Dogmen und hält seine vorläufigen Hypothesen zu lange fest. Und wenn sich neue Tatsachen ergeben, die nicht mit der Hypothese übereinstimmen, neigt es dazu, die Beweise lieber so auszulegen, dass sie mit der Theorie übereinstimmen, als diese aufzugeben. Die wissenschaftliche Auffassung über die Evolution hat sich im Laufe der Zeit aufgrund neuer Erkenntnisse geändert, und sie nähert sich mehr und mehr dem theosophischen Standpunkt. Dies zeigt erneut, welch positive Auswirkung eine unabhängige Forschung auf die Neigung zu dogmatischem Denken hat.

Die Analogien zwischen verschiedenen Arten von Organismen lassen stark vermuten, dass eine Evolution stattgefunden hat, aber die Schwierigkeit bestand immer darin, den tatsächlichen Gang der Dinge aufzuzeigen. Wenn die darwinistische Theorie richtig ist, müssten wir unter den heute bestehenden Formen solche antreffen, die das Übergangsstadium von der einen zur anderen Art repräsentieren. Was wir jedoch wirklich finden, sind einzelne Formen mit Lücken dazwischen. Um dies zu erklären, behauptet man, die Zwischenformen seien verschwunden, weil sie sich ihrer Umgebung nicht anpassen konnten. Und es wird darauf hingewiesen, dass die Paläontologie von vielen dieser Zwischenformen spricht, die es vor langer Zeit gegeben haben soll, als die Lebensbedingungen noch anders waren, aber dass sie seitdem ausgestorben sind. Die Paläontologie zeigt uns aber auch, dass die Reptilien den Höhepunkt ihrer Entwicklung im Mesozoikum erreichten, dem Zeitalter der Riesenechsen. Heute existieren sie nur noch als Eidechsen von einigen Zentimetern Länge. Dies ist ein Beispiel für eine Spezies, die ihre höchste Entwicklungsform erreicht hatte und dann ausstarb. Diese Tatsache zeigt, dass der Evolutionsplan nicht so einfach ist, wie man ursprünglich dachte; und es ist auch vernünftig anzunehmen, dass die Arbeitsweise der Natur weitaus komplexer ist als der einfache Plan, den man sich zunächst davon machte.

Spätere Studien von Biologen haben den Standpunkt bestätigt, dass die Natur mit einer auf der physischen Ebene fortschreitenden Evolution mehr zu einer größeren Verschiedenartigkeit geneigt ist als zu Uniformität, und dass jede Art eher dazu neigt, sich entlang ihrer eigenen speziellen Linien zu entwickeln und sich dabei vom Hauptstamm entfernt, als in einer geraden Linie zur nächsthöheren Form auf der Leiter aufzusteigen. Außerdem wurde festgestellt, dass Arten, die sich durch äußere Umstände differenzieren, so wie es bei Haustieren der Fall ist, dazu neigen, zu ihren ursprünglichen Typen zurückzukehren, wenn diese speziellen Umstände verschwinden. Ein Beispiel hierfür ist eine bestimmte Hühnerart, das sogenannte Gallus Ferrugineus (Bankivahuhn), das in Ost-Indien, in Süd-China bis Sumatra und Java wild vorkommt und die ursprüngliche Form darzustellen scheint, von der alle unsere Hühnerarten abstammen. Wenn nun die zahmen Hühner wieder verwildern, behalten sie ihre erworbenen Eigenschaften nicht, sondern entwickeln sich wieder zum primitiven Gallus Ferrugineus Typus zurück. Man könnte noch mehr Beispiele aufzählen. Dies scheint darauf hinzuweisen, dass die Evolution von Arten nicht entlang einer geraden Linie der Kontinuität von der einfacheren zur komplizierteren Form verläuft, sondern dass jede Art dazu neigt, entlang ihrer eigenen speziellen Linie davon abzuweichen. Deshalb wird die Evolution manchmal mit einem Baum verglichen – mit dem Hauptstamm, den größeren Ästen, den kleineren Ästen und den Zweigen. Die Äste und Zweige stellen die Arten dar, während die großen Äste die primitiven Formen sind, woraus erstere hervorkamen. Wenn sich herausstellt, dass zwei Formen die gleiche Struktur haben, ist das dann ein Beweis dafür, dass die eine Form aus der anderen hervorging oder dafür, dass beide von gemeinsamen Eltern abstammen, wonach jede ihren eigenen Weg einschlug, der sie im Laufe der Zeit weiter auseinandertriften ließ? Entsprechend dieser Auffassung wäre die Vielfalt der Formen, die wir heute sehen, aus einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von ursprünglichen Formen entstanden.

Trotz alledem ist nicht klar, ob Veränderungen bei den Arten die Folge von Vererbung sind. Die weitläufigen Untersuchungen auf dem Gebiet der Vererbung machen das Problem eher komplizierter, als dass sie uns einer Lösung näher bringen. Wenn jedoch kleine, zufällig entstandene Veränderungen nicht durch Vererbung weitergegeben werden, dann bricht die ganze Theorie zusammen. Und trotzdem können wir den Gedanken kaum ignorieren, dass es Evolution gibt – denn derartiges Wachstum und Entwicklung ist offensichtlich ein allgemeines Naturgesetz. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?

Diese und viele andere Schwierigkeiten, die bei der Interpretation von Evolution entstehen, sind eine Folge des Versuchs, den Prozess rein physisch und mechanistisch zu betrachten. Doch auch in dieser Hinsicht kommt die Wissenschaft in Bewegung. Viele Biologen legen im Augenblick mehr wert auf den Organismus an sich als auf die Umwelt, in der dieser lebt. Kein Umfeld könnte auch nur ein einziges Resultat zustande bringen, würde der Organismus selbst nicht auf dessen Einfluss reagieren. Wenn man also die Auswirkungen der Umwelt anführt, ist es notwendig anzunehmen, dass das Individium imstande ist, darauf zu reagieren; und das ist für einen unvoreingenommenen Geist gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass das Individium ein lebendiges Wesen ist, ein Wesen mit einem bestimmten Maß an Gefühl und Intelligenz – mit anderen Worten: eine Seele. Um einer derartigen Schlussfolgerung zu entgehen, müssten wir zu Äußerungen zurückkehren wie ‘inhärente Eigenschaften der Materie’ oder inhärente Eigenschaften der lebendigen Materie, des Protoplasmas; eine Erklärung, die unbrauchbar ist und eigentlich keine Erklärung darstellt. Zwischen der lebendigen und der sogenannten toten Materie gibt es zwar gewisse Unterschiede, aber sie können nur schwerlich als essentiell bezeichnet werden. Wenn dem so wäre, müssten wir annehmen, dass es im Universum zweierlei Arten von Materie gibt: die eine lebendig, die andere nicht; eine unnötige Komplikation, die außerdem zu unüberwindlichen Schwierigkeiten führt. Im Mineralreich der sogenannten toten Materie nehmen wir mancherlei sonderbare Eigenschaften und Aktivitäten wahr. Ein unvoreingenommener Beobachter wird geneigt sein, diese als Beweis von Leben und Intelligenz zu sehen. Aber da die Wissenschaft heute davon ausgeht, dass es so etwas wie tote Materie gibt, ist sie gezwungen, diese Eigenschaften und Aktivitäten zu erklären – unter der Annahme, dass es blinde ‘Kräfte’ gibt. Diese werden durch die wohlbekannten physikalischen Kräfte wie Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, Anziehung und Abstoßung, Kohäsion und so weiter, dargestellt. Wenn aber aus dem Zusammentreffen von zwei Dingen eine Anziehungskraft resultiert, dann kann sie nicht die Ursache sein, die die Dinge zusammenbringt. Das würde bedeuten, dass Gegenstände durch Bewegung in Bewegung gesetzt werden. Wärme ist naturwissenschaftlich etwas, das mit Molekularschwingung, Ausdehnung und anderen Phänomenen gemeinsam auftritt. Was jedoch bringt diese Phänomene zustande? Die Kräfte, die die Materie antreiben, um Phänomene wie Wärme oder chemische Aktivität hervorzurufen, können selbst nicht materiell sein; oder sie müssen zumindest aus einer feineren Art von Materie bestehen.

Es gibt keinen triftigen Grund, den Pflanzen ein Leben zu gestatten und dies den Mineralien zu verweigern, obschon wir natürlich zugestehen müssen, dass sich das Leben in den unterschiedlichen Naturreichen auf verschiedene Weise manifestiert. Und so kommen wir wieder zu der These zurück, dass die gesamte Natur aus lebendigen Wesen zusammengesetzt ist, von denen viele mikroskopisch klein sind, die aber dennoch alle zusammengesetzt sind, evolvieren und wachsen. Mit dieser These als Ausgangspunkt wird die Evolutionslehre viel leichter verständlich.

Obschon wir vorgeben, in religiösen Angelegenheiten unvoreingenommen zu sein, haben wir trotzdem unbewusst gewisse Vorurteile, die aus dem Dogmatismus früherer Generationen herrühren. Die theologische Idee eines Gottes außerhalb des Universums, das er schuf, erweckte die Vorstellung, dass es eine riesige Menge toter Materie gegeben habe, die er als Material verwendete oder der er Leben schenkte. Die Vorstellung von toter Materie ist die Folge einer vom Universum losgelösten Gottesvorstellung. Wir sehen, dass der Mensch im Altertum an ein Universalbewusstsein der Natur glaubte und dass dieser Glaube noch heute in Gebieten existiert, in welche die Idee von einem theologischen Gott noch nicht vorgedrungen ist. Dies wird als Aberglaube bezeichnet und es wird behauptet, dass die Menschen des Altertums tote Materie mit einem imaginären Leben bedachten, wobei doch wir es sind, die dem Aberglauben unterliegen, in der Natur existiere so etwas wie tote Materie.

Was uns aber in dieser Kontroverse am meisten beschäftigt ist die Frage nach dem Ursprung des Menschen. Der Gedanke, dass der Mensch vom Affen oder einem anderen Tier abstammt, erweckt Widerwillen. Um diese Schlussfolgerung zu umgehen, sahen die Gegner der Evolutionstheorie sich dazu gezwungen, viel von dem zu leugnen, was von der Wissenschaft als Tatsache festgestellt wurde. Und so manövrierten sie sich selbst in eine eigenartige Position, die nur schwerlich zu verteidigen ist. Aber warum ist es nötig, die Wissenschaft beiseite zu schieben und Dinge zu leugnen, die nicht geleugnet werden können? Dafür gibt es keinen Grund. Denn, wie gezeigt wurde, gibt es ohne evolvierende Lebewesen keine Evolution; und der ganze Prozess ist nicht vorstellbar, wenn er nicht die Folge intelligenten Denkens ‘hinter den Kulissen’ darstellt. Das führt uns zu der Formulierung dessen, was Evolution ist: der Geist, der versucht, sich in der Materie zum Ausdruck zu bringen und dazu die notwendigen Mittel schafft. Die Wissenschaft hat ihren Blick auf das Entstehen und den Entstehungsprozess selbst konzentriert und dabei die Architekten und den Plan übersehen. Man stellte sich eine Urzelle vor, bedachte sie mit einer mysteriösen und unbeschreiblichen Wachstumskraft, die sich durch zahllose Stadien hindurch zu einem unbekannten Ziel entwickelt. Sie reicht sozusagen experimentell ins Unendliche und bringt – durch einen zufälligen Anpassungsprozess an die Umgebung – vielerlei Formen hervor. Heute sind viele Biologen weniger dogmatisch eingestellt als in den Tagen, da H. P. Blavatsky die Evolutionstheorien in ihrer Geheimlehre kritisierte; und einige unter ihnen geben heute zu, dass die wirkliche treibende Kraft hinter der Evolution das lebendige Wesen selbst ist. Aber um Formen unterhalb des Tierreichs mit einzubeziehen, müssen wir einen allgemeineren Begriff gebrauchen und sagen, dass die treibende Kraft die Monade ist, also die lebendige Seele im Organismus, ob diese nun tierisch, pflanzlich oder auch mineralisch ist.

Evolution ist daher ein Prozess der Selbstverwirklichung oder Selbstoffenbarung, der durch das Kosmische Leben, den Kosmischen Geist oder die Kosmische Intelligenz in Gang gehalten wird. Im theosophischen Sprachgebrauch würden wir sagen: der Gott, der sich entfaltet und offenbart, während die Natur das sichtbare Gewand der Gottheit ist. Die Evolution muss als dualer Prozess betrachtet werden – Geist, der sich in Materie ein-faltet, und Materie, die sich nach dem Muster des Geistes ent-faltet. Man kann dies mit den Worten Involution und Evolution beschreiben, aber meist gebraucht man lediglich das Wort Evolution, stellvertretend für den gesamten Prozess. Wir müssen lernen, derartige Variationen im Gebrauch von Worten zu bemerken; und wir müssen sie berücksichtigen. Es geht hier darum, dass der Geist sich nicht wie die Materie aufwärts entwickelt hat. Er hat sich in die Materie ein-gefaltet. Deshalb ist es falsch und irreführend, sich eine Evolution des Geistes vorzustellen, die parallel mit der Evolution der Formen in den Naturreichen verläuft. Die Verwirrung kulminiert in dem Versuch zu zeigen, dass die Intelligenz des Menschen sich aus der Intelligenz der Tiere entwickelte. Es gibt einen radikalen Unterschied zwischen dem Bewusstsein des Menschen und dem Bewusstsein selbst des am höchsten entwickelten Tieres – nämlich das Selbstbewusstsein. Es ist entweder präsent oder nicht, und es erscheint nicht schrittweise.

Evolution bedeutet das Entfalten dessen, was latent vorhanden ist; und das beinhaltet, dass der ursprüngliche Mikroorganismen potentiell alles in sich trägt, was später zum Ausdruck gebracht wird. Evolution bedeutet nicht das Zusammenbringen von einzelnen Elementen mit dem Ziel, etwas Zusammengesetztes daraus zu machen. Sie ist kein Prozess des Hinzufügens. Auf diese Weise kann man ein Gebäude errichten oder eine Maschine, aber nicht einen Organismus. Ein Gebäude oder eine Maschine eigentlich auch nicht, denn diese müssen vorher schon als Plan in der Vorstellung des Planers bestehen. Es ist wahr, dass der Samen Teilchen aus der Erde und der Luft anzieht, um seine Form aufzubauen. Dieser Aufbau erfolgt jedoch nach einem bestimmten Modell. Bevor die Pflanze als physischer Organismus – für das Auge sichtbar – existiert, besteht sie bereits als astraler Organismus; und das Auge eines Hellsehers kann sie als solche wahrnehmen. Wenn die Pflanze zerfällt, bleibt der astrale Organismus bestehen, um so ein Modell für zukünftige, ähnliche physische Organismen zu formen.

Bereits vor dem zweiten Weltkrieg neigte eine Anzahl prominenter Biologen immer mehr dazu, die Gedankenbilder zu akzeptieren, die hier erläutert werden. Es wurde ihnen allmählich klar, dass die bloße Beschreibung des Prozesses keine ausreichende Erklärung der Evolution liefert und dass man um die Schlussfolgerung nicht herumkommt, dass hinter diesem Prozess intelligente Kräfte stehen. Auch Physiker sehen, dass ihre ‘Kräfte’ lediglich sich in der Materie auswirkende Folgen sind, die von etwas Unbekanntem hervorgebracht werden. Sie haben die Materie bis zu einem Punkt analysiert, an dem es unmöglich ist weiterzugehen, ohne die Grenzen der Materie zu überschreiten. Wie vollständig die materielle Erklärung von Naturerscheinungen auch sein mag – sie ist nur innerhalb bestimmter Grenzen vollständig und lässt noch sehr viel Raum, um ultra-physische Kräfte hinzuzufügen, ohne dass die physikalische Erklärung auch nur im Geringsten verworfen wird. Und einzelne Naturwissenschaftler machen den unvermeidlichen Schritt und durchtrennen den Knoten mit der Schlussfolgerung, dass sogar die physische Materie von lebendigen Kräften angetrieben wird – und das heißt von Lebewesen.

Die höhere Triade

Der Mensch selbst ist nicht nur eine Monade, die sich eines materiellen Körpers bedient. Er ist das Produkt verschiedener Evolutionslinien, vereint in der zusammengesetzten Natur, die uns allen so vertraut ist. Eine Monade könnte unmöglich direkt durch einen menschlichen Körper wirken. Die Monade ist reines Geist-Bewusstsein, der Körper aber aus grober Materie gebildet, die zu dicht und zu träge ist, um der Monade direkt als Arbeitsfeld dienen zu können. Sie würde den Körper sozusagen verzehren, ebenso wie elektrischer Strom den Körper vernichten kann. Deshalb sind vermittelnde Elemente zwischen der Monade und dem Körper notwendig. Diese Elemente müssen von einer ätherischeren und spirituell empfindlicheren Natur sein als die physische Materie, da sie als ‘Transformatoren’ fungieren müssen. Sie müssen die spirituellen Energien der Monade umsetzen und in den materiellen Organismus leiten. Dann kann die leitende Kraft der Monade durch die Erfahrungen in der menschlichen Existenz unsere Evolution beseelen und regeln. Man muss ebenso bedenken, dass die Monade, die durch einen Menschen wirkt, unendlich viel weiter evolviert und mächtiger ist als die verhältnismäßig unentwickelte Monade, die sich zum Beispiel in Form eines Atoms in einer Pflanze zum Ausdruck bringt.

Das Denken stellt eine dieser ätherischeren Formen der Energiesubstanz dar, welche die Monade als Vehikel benutzt, um ihre Energien auf unser irdisches Gebiet zu transformieren. Das Denken ist eine ganz bestimmte Linie, entlang derer sich die menschliche Evolution vollzieht. Unser Denkvermögen entwickelt sich fortwährend entlang seiner eigenen Linien, während unser Körper nach seinem speziellen Muster wächst und sich entwickelt. Die Evolution unseres Denkens vollzieht sich parallel zur geistigen Evolution der Monade ‘darüber’ und auch parallel zur Evolution des Körpers und seiner vitalen Energien ‘darunter’. Das Denkvermögen ist das Bindeglied zwischen Körper und Monade.

Das war es, was der Apostel Paulus meinte, als er die Natur des Menschen in Körper, Seele und Geist einteilte. Die Seele ist das Bindeglied in der Konstitution des Menschen; und eine der wichtigsten Funktionen dieser Seele oder dieses vermittelnden Teils unseres Wesens ist unter anderem die des Verstandes oder des Intellekts, der seinerseits auch wieder höhere und niedere Aspekte hat.

Alles, was wir als Menschen sind, verdanken wir letztlich der monadischen Essenz, die das Innerste einschließt. Unsere spirituelle Intelligenz, unsere Instinkte für edles Denken, für freundliches und brüderliches Handeln, die Impulse des Mitleids, die unser Herz erfüllen, die Liebe, die uns so ziert, die erhabensten Intuitionen, derer unsere Natur fähig ist – alles das leitet sich von der Monade ab und findet dort seine Wurzeln. …

Nun ist die Seele, ebenso wie die Monade, in Wirklichkeit eine zusammengesetzte Wesenheit. Sie ist lediglich die einkleidende oder psychomentale Hülle einer Monade, die durch jene besondere Phase ihrer immerwährenden Wanderschaft in bestimmter Zeit und durch den hierarchischen Raum geht. Die Ausdrucksform dieser Monade auf irgendeiner Ebene ist eine Seele. Die Seele wirkt ihrerseits durch ihr eigenes, ätherisches oder physisches Vehikel.

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, II:57/58

Woher stammen diese Elemente im Menschen? Wie bereits erklärt, hat die Monade ihren Ursprung im universalen kosmischen Leben oder dem allgegenwärtigen Geist und ist seine Emanation. In einem gewissen Sinn ist der Mensch sein unsterbliches Wurzelprinzip selbst. Aber was ist der Ursprung des Denkvermögens?

Das Denkvermögen ist in der Monade latent als Prinzip vorhanden. Da die Monade dem zentralen Feuer des kosmischen Geistes entspringt, das alle Dinge in sich enthält, bewahrt sie in sich selbst alle Möglichkeiten. Jeder Teil enthält in der Potenz alles, was das Ganze enthält. Ein Funke hat dieselbe Natur wie die Flamme, aus der er entstand. Ein Tropfen des Ozeans ist im Kleinen all das, was der Ozean ist. Hieraus folgt, dass jede Monade, als Teil des kosmischen Ganzen, alle Elemente, Potenzen und Möglichkeiten in sich enthält, welche die Evolution während der Lebensdauer unseres Universums zur Entwicklung bringen kann. Aber zu Beginn dieser universalen Lebensperiode sind die genannten Potenzen lediglich latent vorhanden; oder sie befinden sich in einem schlummernden, unentwickelten Zustand. Während die Äonen verstreichen und die Monade ihre evolutionäre Pilgerfahrt fortsetzt und sich aus den unsichtbaren spirituellen und ursächlichen Welten ‘nach außen’ in die sichtbare Welt der Formen und Folgen begibt, werden die latenten Potenziale – mineralische, pflanzliche und tierische – allmählich entfaltet und entwickelt. Schließlich kommt der Zeitpunkt, an dem die Monade das Stadium erreicht hat, in dem sie sich in das Kleid des Menschseins hüllen kann. Alle niedrigeren Fähigkeiten sind vollkommen entwickelt und jetzt ist der Punkt für die Evolution entlang der mentalen und intellektuellen Linien erreicht.

Vor Millonen von Jahren unserer Evolution fand das statt, was H. P. Blavatsky in der Geheimlehre als die Inkarnation der Mānasaputras bezeichnet. Wie bereits erklärt, steht die Monade weit über der menschlichen Ebene – zu hoch sogar, um in der Konstitution des Menschen das intellektuelle Prinzip zur Tätigkeit erwecken zu können. Das war der Grund, weshalb das manasische oder denkende Prinzip anfangs noch immer ‘schlief’. Dieser Umstand wird von W. Q. Judge in seinem Buch Das Meer der Theosophie folgendermaßen erklärt:

Die Evolution entwickelte die niederen Prinzipien und schuf schließlich die Gestalt des Menschen, mit einem Gehirn, das eine bessere und größere Kapazität aufwies als die jeden anderen Tieres. Dieser menschenförmige Mensch war jedoch noch kein denkender Mensch. Er benötigte das fünfte Prinzip, das Denkvermögen, das Wahrnehmungsvermögen, damit er die volle Trennung vom Tierreich herbeiführen und die Fähigkeit des Selbstbewusstseins erlangen konnte.

– S. 74

Der Intellekt des Wesens, das in diesem Moment beinahe ein Mensch war und von seiner Monade überschattet wurde, hatte deshalb einen Funken, einen Impuls nötig, um zu erwachen und sich seiner selbst bewusst zu werden.

Dieser ‘Funke’ oder erweckende Impuls wurde jenen evolvierten menschlichen Vehikeln der Monade von den ‘Söhnen des universalen Denkens’ überbracht. Sie werden in der Esoterischen Tradition die Mānasaputras oder die ‘Söhne des Denkens’ genannt. Diese Wesen, die Mānasaputras, bilden eine Hierarchie, Reihe oder Klasse von spirituellen Wesenheiten. Sie vollendeten ihre intellektuelle Evolution in einem längst vergangenen Zyklus. Die höchsten dieser Mānasaputras sind deshalb in ihrer Evolution so weit vorangeschritten, dass sie den Status von kosmischen Göttern erreicht haben. Sie sind große Bewusst-Seine, welche die Hierarchie des intellektuellen Selbstbewusstseins in unserem Universum bilden und darstellen. Als große Hierarchie oder Gruppe sind sie Mahat oder das universale Denkvermögen, gemäß H. P. Blavatskys Bezeichnung in der Geheimlehre.

Es waren die Mānasaputras oder die Söhne des kosmischen Denkens, die sozusagen den Funken, den schöpferischen Impuls überbrachten, der das Denkvermögen im menschlichen Vehikel erweckte, das inzwischen von der Monade für diesen Zweck entwickelt worden war. Dies erinnert an die bekannte griechische Legende von Prometheus, der das Feuer der Götter stahl und es den Menschen brachte. Daraufhin wurde er von Zeus zur Strafe an einen Felsen gekettet.

Dieser Prozess hat etwas mit dem Anzünden einer Kerze gemeinsam. Es kann keine Flamme entstehen, wenn der Brennstoff nicht so vorbereitet wurde, dass man die Kerze anzünden kann. Beim ‘Entflammen’ des Denkvermögens im evolvierten menschlichen Vehikel könnte man den Menschen mit einer Kerze vergleichen. Er hatte ein psychologisches Vehikel oder Instrument, das von der Monade entwickelt worden war, die ihn in langen Äonen überschattete. Auch die Naturkräfte trugen dazu bei, dass – als die Zeit reif war – der kreative ‘Lichtblitz’ durch die Mānasaputras gegeben werden konnte, um eine Flamme auflodern zu lassen, die nie mehr ausgelöscht werden kann. So wurde das, was nur der Form nach ein Mensch war, jetzt wirklich zu Manas, dem Denker. Und dieses denkende Prinzip verband die Monade mehr oder weniger direkt mit der tierischen Natur, wodurch die Evolution des Menschen enorm beschleunigt wurde.

Wie bereits gesagt wurde der Mensch zum wirklichen Menschen. Aber wodurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier? Durch die Vernunft, das Vermögen zu denken, zu argumentieren und zu planen. Der Mensch wird nicht wie das Tier lediglich durch den Instinkt geleitet. Er ist selbstbewusst. Das Ego ist in ihm stark entwickelt, der Teil, der erkennt: ‘Ich bin ich und niemand anders. Ich bin ich selbst, nicht meine Umgebung. Ich bin getrennt von allen anderen Dingen. Ich bin imstande, diese anderen Dinge zu beeinflussen und sie meinen eigenen Zielen unterzuordnen und kann so meine Umgebung kontrollieren. So kann ich meiner Bestimmung die Form geben, die am besten zu mir passt.’

Nur der Mensch verfügt über die Kraft des selbstbewuss-ten, freien Willens. Er hat die Fähigkeit, frei zu wählen. Und diese Fähigkeit resultiert aus dem Manas, dem Ego, dem selbstbewussten Denker, den die Mānasaputras in ihm erweckten. Wenn das aber so ist, woher kommt es, dass der Mensch, zumindest gegenwärtig, die Kraft seines freien Willens über sich selbst und sein Schicksal nicht besser zum Ausdruck bringen kann? Die Widerstände, die einem freieren Gebrauch unseres Willens im Wege stehen, sind karmischer Natur und also eine Folge unseres eigenen Handelns in der Vergangenheit. Wir werden in der Ausübung unseres freien Willens nur scheinbar durch äußere Einflüsse behindert. Tatsächlich sind wir selbst und die Folgen unseres Handelns die Ursache dafür.

Die Kenntnis des karmischen Gesetzes kann wesentlich dazu beitragen, das Problem zu lösen. Manas, das Denkprinzip, ist in seinen höheren Aspekten ein Teil von dem, was wir die ‘Höhere Triade’ im Menschen nennen. Aber bevor wir mit dem Studium der beiden weiteren Prinzipien beginnen, die zu dieser höheren Triade gehören, betrachten wir zunächst einmal die gesamte zusammengesetzte Konstitution des Menschen.

Für die Beschreibung der verschiedenen Aspekte unserer siebenfachen Konstitution werden Sanskritausdrücke benützt. Dies ist notwendig, weil in den modernen Sprachen keine geeigneten Ausdrücke zur Verfügung stehen. Die westliche Wissenschaft, Religion und Philosophie haben die Kenntnis der metaphysischen und spirituellen Tatsachen des Seins seit so langer Zeit vergessen, dass die Bezeichnungen für diese höheren und niederen Bewusstseinszustände sich nicht entwickelten. Im Osten jedoch wurde die geheime Wissenschaft oder Esoterische Tradition am Leben erhalten. Deshalb gibt es im Sanskrit alle korrekten und notwendigen Bezeichnungen, um die sieben Prinzipien der menschlichen Konstitution auf einfache Art verständlich zu machen. Ein anderer Grund für die Verwendung des Sanskrit besteht darin, dass wir die Worte international verwenden können und sich dadurch lange Beschreibungen vermeiden lassen. Im folgenden Diagramm deuten die Klammern auf die gegenseitigen Zusammenhänge und einige Wechselbeziehungen hin.

Höhere Triade { Ātman
Universales Selbst
} Die Monade
Buddhi
Spirituelles Selbst
Manas
Denkvermögen
} Persönlichkeit
Niedere Vierheit { Kāma
Wunschprinzip
Prāṇa
Lebensprinzip
   
Linga-Śarīra
Astralkörper
   
Sthūla-Śarīra
Physischer Körper
   

Aus diesem Diagramm können wir ersehen, dass das, was wir die Monade genannt haben, zweifältig ist – zusammengesetzt aus zwei Prinzipien, Ātman und Buddhi. Und trotzdem haben wir immer von der Monade als von einer Einheit von Bewusstsein gesprochen. Wenn man aber einmal begreift, was diese zwei Prinzipien sind, wird man auch ihre untrennbare Existenz in der menschlichen Evolution verstehen.

Das Sanskritwort Ātman bedeutet Selbst. Jedes Wesen, wie klein oder groß auch immer, ist ein Selbst. All diese vielen Myriaden von Selbsten sind aus dem einen kosmischen Selbst hervorgegangen, dem universalen Ātman oder dem kosmischen Leben, so wie Funken einer Flamme entspringen. Es gibt ein Selbst oder◊√ Ātman unseres Universums; diesem Ātman entnahm das lebenspendende Bewusstsein unseres Sonnensystems sein individuelles Ātman; und so immer weiter, die majestätische Leiter der evolvierenden Wesen hinab, bis wir zum Menschen kommen. Aus dem Ātman des Menschen sind die Funken aller Wesen in den unter uns stehenden Reichen entsprungen, auch die der Atome, Elektronen und Elementale, monadische Selbste, die letzten Endes auf das universale Ātman oder auf das Selbst des Universums zurückgehen.

An der Wurzel des Wesens des Menschen wohnt sein Ātman, das ICH BIN, sein Selbst – die Erkenntnis, dass er existiert, dass er lebt. Diese Empfindung des ICH BIN ist universal. Sie ist bei allen Wesen gleich. Sie ist universal in allem, was ist, weil das innerste spirituelle Bewusstsein eines jeden Organismus ein integraler Teil des universalen Selbstes oder Ātman ist, so wie der Tropfen ein integraler Teil des allumfassenden Ozeans ist. Jeder Tropfen ist dem Wesen und der Zusammensetzung nach jedem anderen Tropfen und dem Ozean selbst gleich.

Dieses ICH BIN ist für den Suchenden manchmal schwer zu verstehen, wenn er noch niemals darüber nachgedacht hat. Wir sind alle vertraut mit dem Ego, das eigentlich alles vergegenwärtigt, was wir von uns selbst wissen. Wir sind sozusagen durchdrungen von dem Bewusstsein, dass wir anders sind als all die anderen. Wir können vielleicht eine Ahnung davon haben, was gemeint ist, wenn wir ein sehr kleines Kind betrachten. Oder wir können es in uns selbst erfahren, wenn wir am Morgen erwachen, wenn wir uns bewusst sind, dass wir leben und uns behaglich fühlen, aber noch nicht auf die schwierigen Seiten des täglichen Lebens eingestellt sind.

Ātman, das Bewusstsein von ICH BIN in jedem von uns, ist universal und deshalb anders als das Ego oder Manas, dem die Empfindung ‘Ich bin ich’ entspringt. Dieses Ego-Bewusstsein ist in jedem Menschen verschieden, während, wie gesagt, das reine Selbstbewusstsein, die Empfindung zu leben und tätig zu sein, in allen Geschöpfen gleich ist – und zwar sowohl in menschlichen als auch in anderen Wesen. Wenn einmal dieses ‘Selbstbewusstsein’, das universalen Ursprungs ist und die Grundlage eines jeden Wesens bildet, allgemein akzeptiert wird, wird das zu wahrer spiritueller Bruderschaft führen und unsere höchsten, spirituellen Fähigkeiten zur Entfaltung bringen.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Ātman, das Herz der Monade, zu weit über der menschlichen Ebene liegt, um hier direkt wirken zu können. Deshalb ist das erste Vehikel oder Gewand, womit er sich bekleidet, Buddhi. Das Wort Buddhi enthält den Gedanken des Erwachens. Die buddhische Fähigkeit im Menschen führt zu Erkenntnis, zum Schauen ‘in’ die Dinge, weil sie ihn erweckt oder sich seiner selbst bewusst macht. Etwas davon kann man bei all denjenigen beobachten, die sich allgemein um das Wohlergehen der Menschheit kümmern, die für die oft erschreckenden Umstände, in denen sich die Menschen manchmal noch befinden, ein Auge haben, und die nicht nur für ihre eigenen Belange leben. Der Mensch, der angefangen hat nachzudenken, der Fragen stellt und begonnen hat zu suchen, erwacht, besonders wenn sein Interesse für seine eigenen Probleme sich unaufhaltsam in das Interesse für die Probleme anderer verwandelt.

Buddhi als Prinzip in uns ist spirituelles Bewusstsein auf der höchsten Ebene, das auf der menschlichen Evolutionsleiter existiert. Vom universalen Standpunkt Ātmans aus betrachtet, ist Buddhi ein Gewand, ein Schleier oder Vehikel, das aus einer ursprünglichen Substanz besteht. Aber diese ‘Substanz’ ist dem Göttlichen so ähnlich, dass sie – mit unserem verhältnismäßig groben Denkvermögen betrachtet – reines Bewusstsein ist. Deshalb können wir Buddhi als spirituelles Bewusstsein umschreiben.

Im Okkulten Wörterbuch erklärt Dr. de Purucker dieses Prinzip folgendermaßen:

Buddhi ist das Prinzip oder Organ im Menschen, das ihm spirituelles Bewusstsein verleiht. Es bildet den Träger für den höchsten Teil des Menschen – für Ātman. Buddhi ist eine Fähigkeit im Menschen, die sich als Verstehen, Urteilsvermögen und Unterscheidungskraft äußert, und bildet einen untrennbaren Schleier, ein untrennbares Gewand des Ātman.

– S. 35

Der Gebrauch des Wortes ‘untrennbar’ erklärt, weshalb wir von unserem Standpunkt aus gesehen von der Monade als von einer Einheit sprechen können.

Buddhi ‘transformiert’ die Energien von Ātman und leitet sie weiter zu Manas, dem Ego. Vom Standpunkt des Ego ist Buddhi tatsächlich ein universales Prinzip. Sie ist deshalb der Sitz oder das Organ der unpersönlichen Liebe, ‘der Liebe zu allen Wesen’, die göttlich ist. Und in demselben Sinn ist Buddhi der Ursprung des menschlichen Gewissens, sein Gefühl für Rechtschaffenheit und Pflicht. Das Gewissen wurzelt in unserem Pflichtgefühl gegenüber anderen. Es ist gleichzeitig eine Empfidung für das, was richtig ist. Das Richtige ist das Universale – das, was ein jeder tun müsste, um in Übereinstimmung mit dem spirituellen Gesetz und der spirituellen Ordnung zu handeln. Das Ego ist eigensinnig – sucht sich selbst und geht seinen eigenen Weg. Buddhi befähigt uns dazu, unsere egoistischen Gefühle und Taten dem universalen Guten unterzuordnen.

Ein Studium der höheren Triade mit ihren verschiedenen Aspekten und ihrer tatsächlichen Verbindung zu unseren täglichen Problemen wäre ein ungemein wichtiger Beitrag zur Psychologie. Denn die alte Weisheit lehrt uns, wie wir die fast unbegrenzten spirituellen Kräfte, die in dieser höheren Triade existieren, finden und verwirklichen können. Sie zeigt uns, wie wir lernen können, mit diesen Kräften unsere niedere, tierische, selbstsüchtige Natur zu beherrschen, etwas, was viel nützlicher und inspirierender ist, als sich in der ‘Libido’ und anderen Nebenpfaden in den Tiefen der menschlichen Natur auszuleben. Und in dem Maße, in dem man sich in dieses Studium vertieft, lernt man den wesentlichen und wichtigen Unterschied zwischen dem spirituellen und dem persönlichen Willen kennen – eine Erkenntnis, die von unschätzbarem Wert ist. Hierauf werden wir noch näher eingehen.

Ist Karma eine blinde Kraft?

Es wurde bereits gesagt, daß wir das Universum als eine organische Einheit betrachten müssen, wenn wir Karma verstehen wollen. Wenn dies nicht der Fall wäre, dann könnten seine unterschiedlichen Bestandteile sich nicht gegenseitig beeinflussen. Nehmen wir als Beispiel wieder den menschlichen Körper. Darin zirkulieren durch ein System von Nerven, Blutgefäßen und anderen Wegen elektro-vitale Kräfte, welche jedes Organ, jede Zelle und jedes Atom miteinander verbinden. Ein Fuß rutscht aus, und sofort arbeiten die Muskeln, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wenn etwas ins Auge gerät, schließt es sich sofort. Die Reaktion ist perfekt, weil der Körper ein gesamter Organismus ist. Es ist wichtig, sich dessen bewußt zu sein, daß jede Zelle in diesem Organismus ein individuelles Leben ist, das von einem höheren Zentrum beherrscht wird. Im Fall eines Muskels arbeiten beispielsweise seine sämtlichen Zellen zusammen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzeugen, nämlich die Kontraktion oder die Muskelkraft, und das trifft auch für die Organe zu. So stehen die Zellen stufenweise unter der Kontrolle eines stets höher entwickelten Zentrums bis hinauf zum Gehirn und durch dieses Organ bis hin zu einem unsichtbaren Intelligenzzentrum, das alle Funktionen dieses wunderbaren Organismus vereint und koordiniert und zu einem Organismus macht. Der Körper selbst ist wieder Teil eines größeren Organismus, des Organismus, den alle Menschen gemeinsam bilden. Sie formen zusammen die Menschheit. Darüber befinden sich zahllose Scharen von Wesen in steigendem Entwicklungsgrad, die alle miteinander verbunden sind, die Verantwortung tragen für die unter ihnen stehenden Scharen und wiederum selbst von den höheren Graden unterstützt werden. Über dem Menschen befinden sich Wesen, die zu den Göttern hinaufreichen und noch höher, Super-Götter, Planetengeister, Herrscher über Sonnensysteme und darüber wieder andere, die Gruppen von Sonnensystemen zusammenhalten; immer höher bis zu einem Herrscher über das Universum und noch weiter aufwärts bis zu TAT, dem UNBEKANNTEN, das hinter allen Manifestationen steht. All diese unendlichen Abstufungen von Wesen sind durch Lebensströme verbunden, wie ein Nervensystem, wohindurch sich unentwegt die Lebenskräfte bewegen. Und dieses mächtige Wesen erfüllt den gesamten Raum, ist praktisch der Raum selbst. Wir können auch sagen, daß der Raum aus bewußten Wesen unendlicher Vielfalt besteht, die alle miteinander verwoben und voneinander abhängig sind.

Diese Gedanken werden vielleicht von vielen Menschen, die nicht damit vertraut sind, als fremd empfunden, aber wenn wir intensiv darüber nachdenken, wird uns allmählich klar, daß das Universum nie zusammenhalten könnte, wenn es keine organische Einheit wäre. Chaos würde unter den Himmelskörpern herrschen – die in einem Ozean von Ether zu treiben scheinen, gäbe es nicht die erhabene Ordnung und Harmonie, auf die wir uns verlassen und der wir vertrauen, Körper, welche tatsächlich göttliche Wesen sind. In der Tat ist das Universum das, was auch der Name besagt, eine Einheit – und genau das meinen wir, wenn wir sagen, daß Bruderschaft eine Tatsache in der Natur ist. Diese Identität von Ursprung und Charakter, dieses ‘Eine im Vielen’ und ‘das Viele im Einen’ macht die Wechselwirkung zwischen all den Teilen des großen Ganzen nicht nur möglich, sondern unvermeidlich.

G. de Purucker drückt dies in seinen Fundamentals of Esoteric Philosophy, S. 35 (engl.) folgendermaßen aus:

‘Wenn der Mensch erkennt, daß er mit allem eins ist, was ist, innerlich und äußerlich, hoch und niedrig; daß er eins mit ihnen ist, nicht nur wie die Mitglieder einer Gemeinschaft eins sind, nicht nur wie die Einzelwesen einer Armee eins sind, sondern wie die Moleküle unseres eigenen Fleisches, wie die Atome der Moleküle, wie die Elektronen der Atome eine Einheit bilden – nicht nur eine Verbindung, sondern eine spirituelle Einheit – dann sieht er die Wahrheit.’

Wir sehen, daß gegenseitige Abhängigkeit ein fundamentales Prinzip im Universum ist, und wir werden entdecken, daß dieses Grundprinzip in allen Einzelteilen des universalen Organismus wirksam ist. Wir haben dies am menschlichen Körper gezeigt. Das Atom, das Sonnensystem, die Milchstraße, alle zeigen in ihrer Struktur und ihren Wirkungen die fundamentale Wirklichkeit von Harmonie und gegenseitiger Abhängigkeit als dem zugrundeliegenden und regulierenden Prinzip in allem Leben auf. Jede Handlung, jede Anstrengung, sei diese physisch, mental oder moralisch, hat ihren gebührenden Einfluß auf diese fundamentale Harmonie, auf dieses Gleichgewicht und diese gegenseitige Abhängigkeit. Selbstsüchtige Gedanken oder Taten stören die Harmonie und verursachen Leiden in der nahen oder fernen Zukunft. Die Enttäuschungen, die wir im Leben erleiden und der Kampf, den wir führen müssen, und zwar oft unter ungünstigen Verhältnissen, sind die direkte Folge unseres Handelns in diesem oder einem vorigen Leben.

Über die Frage, warum es Leiden gibt, haben wir alle unterschiedliche Vorstellungen; die Natur kennt jedoch keine wohltätigere Methode, uns auf unsere Begrenzungen aufmerksam zu machen oder auf das Unrecht, das wir begehen, als daß sie uns ermöglicht, die genauen Wirkungen unserer törichten und selbstsüchtigen Handlungen zu erleiden – wie wir auch bis zum letzten Jota und i-Tüpfelchen aus den Resultaten jedes wirklich uneigennützigen Gedankens und jeder wirklich selbstlosen Tat Nutzen ziehen. Dieser ganze Regulierungsvorgang charakterisiert die selbstlose Seite der Natur, die ebenso unpersönlich handelt und reagiert wie Sonne und Regen.

Das unsterbliche Element in uns ist die Quelle unserer höchsten Inspiration und Stärke, denn es birgt die Weisheit und Erkenntnis unserer gesamten Vergangenheit in sich, die unzerstörbare Aufzeichnung unserer Leiden und Inspirationen, unserer Hoffnungen und Träume. Es registriert all unsere Gedanken und Handlungen – und diesen Ursachen, die heute, gestern und in vergangenen Leben erzeugt wurden, entspringen die Wirkungen.

Für das kosmische Buch des Schicksals existiert daher kein schriftführender Engel, der göttlichen Lohn oder höllische Bestrafung zuteilte. Der Mensch selbst ist es, der seine Vergangenheit eingeschrieben hat, der seine Gegenwart lesen und deuten muß und dabei seine Zukunft gestaltet.

– JAMES A. LONG, Bewußtsein ohne Grenzen, S. 18-19

Zwar wird über Karma gesprochen wie über ein Gesetz, es gibt aber keinen Gesetzgeber, kein beherrschendes Wesen, das dieses oder jenes Dekret erläßt. Vielmehr ist Karma eine Eigenschaft, welche der Natur der Dinge innewohnt. Die alte Lehre besagt, daß jede Handlung das Ergebnis einer früheren Ursache ist und selbst wieder die Ursache für eine zukünftige Handlung wird, und so weiter. Diese dauernde Bewegung ist nicht das Resultat von blinden Kräften, sondern ein lebendiger Strom von Veränderungen, die ihren Ursprung in Gedanken, Taten, Emotionen und Gefühlen haben, in Bestrebungen und Begierden aus all den Leben, die zusammen das Universum bilden und es sind.

Wir wiederholen, es gibt keinen Gesetzgeber und dennoch könnten wir sagen, daß es karmische Vermittler gibt. Wer sind sie? Es sind die großen und weisen Wesen, die bewußt ihren Platz im Universum gefunden haben; die so weit evolviert sind, daß man sie in Bezug auf eine bestimmte Stufe oder Ebene als vollkommen bezeichnen kann, und die darum auf dieser Ebene in Harmonie mit dem Universalgesetz arbeiten. Über ihnen gibt es wieder andere und so geht es weiter, ad infinitum.

Es ist selbstverständlich, daß es in diesem geordneten, komplizierten Universum einen Plan gibt, einen Sinn, und daß jede Einheit, die ihr Dasein im Universum hat, ein Teil des Planes ist. Wenn also die Harmonie irgendwo von unentwickelten, lernenden Wesen gestört wird, wirkt eine alles überragende Kraft, die sich der Wiederherstellung der Harmonie widmet. Die Wirkung Karmas ist immer darauf ausgerichtet, die Harmonie wiederherzustellen, aber weil jede Veränderung aus dem Bewußtsein hervorgeht und das Universum nichts anderes ist als verkörpertes Bewußtsein, werden die karmischen Begleichungen letzten Endes von bewußten Wesen hervorgebracht, die auf ihrer Tätigkeitsebene die Gerechtigkeit verkörpern. Der Herrscher über einen Planeten zum Beispiel erfüllt diese Rolle, weil er die Stufe in der Evolution erreicht hat, wo er absolute Kenntnis von allem besitzt, was zu diesem Planeten gehört. Verglichen mit einer höheren Ebene ist er ein Lehrling, aber für die Ebene unter ihm ist er vollkommen. Sein Wissen von dieser Ebene ist eine Art Intuition oder sofortige Einsicht und seine Führung muß mit der Gerechtigkeit und dem göttlichen Plan übereinstimmen. Man sagt, daß die Götter niemals in Karma eingreifen. Sie könnten es auch nicht. Lernende Wesen müssen die Freiheit haben, ihr eigenes Schicksal zu gestalten, was bedeutet, daß ihre Fehler auf sie selbst zurückfallen, denn nur auf diese Weise können sie lernen. Die Menschen bestimmen ihr Schicksal selbst, indem sie aus den verschiedenen Alternativen, die das Leben bietet, wählen, während karmische Vermittler das ausführen, wozu der Mensch sich entschieden hat.

Diejenigen aber, die zu einer höheren Ebene gehören, führen, beschützen und helfen ihren jüngeren Brüdern bei ihrer Evolution. Auf der langen Lebensleiter steht der Höhere zum Niedrigeren wie Eltern zu ihrem Kind. Sie leben, um zu inspirieren, um ihren Nachkömmlingen zu dienen, und in späteren höheren Stadien der Evolution der Menschheit wird diese Verwandtschaft erkannt werden. Selbst die Mahatmas, obgleich sie unterhalb der Ebene der Götter stehen und daher noch Menschen sind, sind im Vergleich zu uns vollkommen. Sie wenden sich nach uns um, um uns zu helfen, wir sind uns dessen ebensowenig bewußt, wie das Kleinkind der wachsamen Fürsorge der Mutter. So wird das Universum durch ein Netz des Mitleids zusammengehalten.

Könntest du göttliches MITLEID austilgen? Mitleid ist kein Attribut. ES ist das GESETZ der Gesetze – ist ewige Harmonie, ALAYAS SELBST; eine uferlose, universale Essenz, das Licht immerwährenden Rechts, die Folgerichtigkeit aller Dinge, das GESETZ ewiger Liebe. Je mehr du eins mit ihm wirst, je mehr du in seinem Sein aufgehst, je mehr sich deine Seele mit dem was ist vereinigt, desto mehr wirst du selbst ABSOLUTES MITLEID werden.

– H. P. BLAVATSKY, Die Stimme der Stille, S. 93

Welcher Teil des Menschen reinkarniert?

Aus dem bereits Gesagten erkennen wir, daß der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist. Wir haben in seiner Konstitution alle drei Elemente wahrgenommen, nämlich eine Persönlichkeit, die unter dem einen oder anderen Namen bekannt ist, und hinter der Persönlichkeit ein tieferes Reservoir an Bewußtsein, das in den höheren Wünschen seines Wesens zum Ausdruck kommt. Das dritte und niederste von allen ist das animalische Bewußtsein, wozu auch der Körper gehört, das Vehikel der beiden höheren Aspekte im Menschen.

Diese drei Elemente können noch weiter unterteilt werden, so daß sich der Mensch uns als ein siebenfältiges Wesen darstellt. Da wir unser Studium hier aber auf die Reinkarnation beschränken, ist es notwendig, den Menschen als Dreiheit zu betrachten. Das deckt sich mit der Beschreibung des Menschen durch den Apostel Paulus als Körper, Seele und Geist. Diese Einteilung wurde meist vernachlässigt, weil der Mensch nicht genau wußte, was er unter ‘Geist’ verstehen sollte. Paulus lieferte mit dieser dreifachen Einteilung den Beweis dafür, daß er mit den Lehren der Alten Weisheit, nun Theosophie genannt, vertraut war.

Es ist die höhere Natur, auf die bereits hingewiesen wurde, das spirituelle Ego, das reinkarniert. Der technische Ausdruck, den die Theosophie für diesen höheren Teil unseres Bewußtseins verwendet, ist Manas. Dies ist ein Sanskritwort und bedeutet ‘der Denker’, daher können wir das reinkarnierende Ego den Denker im Menschen nennen. Es ist der Ursprung unseres Selbstbewußtseins, von unserer Fähigkeit der Selbstbetrachtung und der Selbstverwirklichung. Durch es treten wir mit dem Leben in Beziehung, verstehen, was wir lernen und fügen so in Form von Charakter und Neigungen die aus der Evolution gewonnenen Erfahrungen in uns ein. Ohne dieses Zentrum des überdauernden individuellen Bewußtseins, in welchem die Ergebnisse der Evolution aufbewahrt werden, würden die Früchte der Erfahrung sich beim Tode auflösen und keine fortschreitende Entwicklung wäre möglich. Es kommt auch durch die Stimme unseres Gewissens zum Ausdruck. Durch es beziehen wir hohe Inspiration und selbstlose Liebe, wir empfangen Eingebungen und Intuitionen aus dem Göttlichen und alle Impulse für unpersönliches und großmütiges Denken und Handeln.

So existieren in uns zwei Selbste: Das Selbst des Egos oder des Denkers, das durch alle unsere Reinkarnationen bestehen bleibt, und das Selbst der Persönlichkeit, das sterblich ist und beim Tode auseinanderfällt. Das Schwanken des Bewußtseins zwischen diesen beiden Selbsten ist das große Mysterium des Lebens. Diese beiden Selbste, die bis jetzt noch so gegensätzlich in ihrem Verlangen und Ziel sind, machen uns zu dem, was wir sind. Wie vertraut sind wir doch alle mit dem Zweikampf zwischen diesen beiden, der immer wieder in uns ausgetragen wird. Die Stimme der selbstsüchtigen Versuchung und der Ruf des unbestechlichen Gewissens – jede Seite kämpft um die Herrschaft Wir vermuten meist nicht, wie tiefgehend und komplex der Kampf ist, bis wir ernsthaft damit beginnen, irgendeinen gewohnheitsmäßigen Fehler zu überwinden, wie schlechte Laune oder irgendeine Schwäche oder tief verwurzelte Selbstsucht. Wir merken dann, daß all unsere inneren und äußeren Kräfte sogleich Partei ergreifen und sich gegeneinander aufreihen. In einem solchen tiefgreifenden, wesentlichen Kampf, wie er zwischen den beiden Naturen des Menschen stattfindet, hat der Sieg zu viele Seiten und unterliegt zu vielen Einflüssen, als daß er in einem kurzen Leben mit eingeschränkter Erfahrung gewonnen werden könnte. Der Kampf muß unter unzähligen Umständen ausgetragen und das Ziel muß durch viele Erfahrungen in einem Leben nach dem anderen erreicht werden, bis schließlich die höhere Natur der einzige Herr und Meister geworden ist.

Woraus entsteht diese Dualität in uns? Warum muß der Mensch sowohl gut als auch schlecht sein? In längst vergangenen Zeiten der Evolution auf unserem Globus wurde das äußerliche, animalische Vehikel des Menschen durch die niederen instinktmäßigen Kräfte aufgebaut. Unter der Wirkung des Evolutionsgesetzes formte es sich langsam zu einem Vehikel für das reinkarnierende Ego. Als dieses Vehikel, bestehend aus Körper und tierischem Bewußtsein, fertig war, nahm das spirituelle Ego es unter seine Obhut und inkarnierte dort, um die weitere Entwicklung zu leiten. Unter dem Einfluß dieses Egos fand nun eine bedeutende Veränderung des Vehikels statt, um es für die Erfahrungen im menschlichen Leben tauglich zu machen. Das spirituelle Feuer des Denkers durch Leben auf Leben stimulierte und entwickelte das Wachstum des bis dahin tierischen Menschen, so daß sich gradweise unter diesem kreativen Einfluß allmählich ein persönliches, halb unabhängiges Bewußtsein entfaltete. Dieses persönliche Bewußtsein, das sich unter der Inspiration seines überschattenden Egos in vielen Inkarnationen langsam ausbreitete, wurde zu der menschlichen Persönlichkeit. Und jetzt ist die Persönlichkeit nicht allein ein Instrument, wodurch das Ego seine eigenen göttlichen Kräfte offenbaren kann, sondern durch ihr eigenes Ringen und Siegen, wozu sie durch ihr Gewissen angespornt wird, beginnt die Persönlichkeit selbst zu evolvieren. Sie entwickelt sich und wächst, sie erhebt sich aus diesem begrenzten persönlichen Bewußtsein und erreicht dabei die eigene Unsterblichkeit. Indem wir unsere niedrigere selbstsüchtige Natur dem Einfluß und der Leitung der höheren unterordnen, machen wir es dem Ego möglich, sein Licht auf dieser Ebene zu offenbaren und daher seine eigenen göttlichen Kräfte auszuüben und zu erweitern. Wenn wir unser persönliches Bewußtsein allmählich veredeln, erheben wir es schließlich auf die Ebene des spirituellen Egos und dadurch wird der Mensch zum unsterblichen Menschen umgewandelt. Auf diese Weise schreitet die gesamte Natur des Menschen in allen ihren Elementen aufwärts in einen höheren Bewußtseinszustand, wozu Dr. de Purucker in Fundamentals of the Esoteric Philosophy (S. 287) erläutert:

Das Werk der Evolution besteht in . . . dem Erheben des Persönlichen zum Unpersönlichen, dem Erheben des Sterblichen, damit es sich in das Gewand der Unsterblichkeit hüllt, dem Erheben des Tieres, um ein Mensch zu werden, dem Erheben eines Menschen, um ein Gott zu werden, dem Erheben eines Gottes zu einem noch erhabenerem Gott.

Es ist jedoch so, daß der persönliche Teil unseres Wesens sich noch immer auf dem Pfad zu einer solchen Vollkommenheit befindet. Wir sind noch weit von dem Ziel entfernt. Die gesamte Rasse ist noch in der Unwissenheit über das Spirituelle gefangen; Leiden und Verwirrung von Geist und Herz haben es im Griff, weil wir noch nicht gelernt haben, unser Bewußtsein in dem überdauernden und wahren Teil in uns zu verankern, dem spirituellen Ego. Wir sind fast gänzlich von den persönlichen Interessen unserer Natur überflutet. Diese Persönlichkeit ist gemischt aus einer Mentalität, die mit Leidenschaften, mit emotionalen Eigenschaften und mit physischen Neigungen und Begierden verbunden ist. In dem einen Augenblick ist die Persönlichkeit von scharfsinnigem Verstand in Beschlag genommen, in dem anderen Moment wird sie durch einen Sturm von heftigem Zorn aus ihrer Verankerung gerissen, dann wieder machen physischer Schmerz oder Krankheit sie zu einem hilflosen, ohnmächtigen Geschöpf. Selten aber bleibt jemand lange Zeit derselbe. Wir fallen von einer Stimmung in die andere, und unsere Ansicht vom Leben wandelt sich fortwährend. Wie alle zusammengesetzten Dinge muß die unbeständige Persönlichkeit sich auflösen, wenn die Zeit kommt, in der sich die verschiedenen Energien und Klassen von Lebensatomen trennen, aus welchen sie zusammengesetzt ist. Denn nur homogene Dinge sind unsterblich. Wird dieses Bündel persönlicher Energien aufgelöst, weil das spirituelle Ego in seine eigene Sphäre zurückgezogen wird, mit anderen Worten beim Tode, läßt es die sogenannten Skandhas zurück. Wenn eine Pflanze welkt und stirbt, dann läßt sie ihre Samen in die Erde fallen, welche die Früchte ihrer kleinen Runde des Wachstums und der Entwicklung sind. Sobald jedoch der Kreislauf der Jahreszeiten die zum Keimen erforderlichen Bedingungen wieder zurückgebracht hat, werden aus diesen Samen neue Pflanzen wachsen. Die Saat eines duftenden Veilchens wird wieder seine Artgenossen hervorbringen, die Saat von Unkraut wird wieder Unkraut zum Vorschein bringen. Mit dem psychologisch-tierischen Organismus des Menschen verhält es sich nicht anders. Wenn er stirbt und vergeht, dann läßt er in dem psychologischen Boden der Natur die unsichtbaren Energie-Samen zurück, die sein eigenes Wachstum hervorgebracht haben. Diese Samen oder Wirkungen werden mit dem Sanskritausdruck Skandhas bezeichnet, weil es im Deutschen keinen Ausdruck gibt, der diese inneren Folgen der Lebenserfahrung genau beschreibt. Diese Skandhas sind es, welche die neue Persönlichkeit formen, wenn das Ego zur Inkarnation zurückkehrt. Sie machen den Menschen zum exakten Resultat dessen, was er im letzten Leben dachte, tat und an Charaktereigenschaften aufbaute.

Das, was sich im Menschen reinkarniert, ist das spirituelle Ego, die göttliche Individualität. Die folgenden Worte von Dr. de Purucker werden uns helfen, das Ego und seine Beziehung zu uns selbst besser zu verstehen:

Zwischen der göttlich-spirituellen Monade und dem physischen Körper gibt es aber eine Anzahl Zwischenteile oder -ebenen der menschlichen Konstitution, und jeder derselben hat seine eigene besondere Art und seine charakteristischen Eigenschaften und Kräfte. Jede Zwischenschicht ist ein Feld, auf dem sich eines der Bewußtseinszentren oder der monadischen ‘Prinzipien’ des Menschen offenbart. Diese Kräfte, Energien und Fähigkeiten manifestieren sich als Denken, Intuition, Inspiration, Emotion, Liebe, Haß, Stolz, selbstsüchtige Impulse, Wünsche und vieles mehr, und sie alle unterscheiden sich voneinander als edel oder unedel, je nachdem, ob sie hoch oder niedrig sind, oder besser, ob sie aus spirituellen oder den astral-physischen und niederen Zwischennatur hervorgehen.

Es ist, um genau zu sein, ein bestimmter Teil dieser Zwischennatur, die ebenfalls zusammengesetzt ist und die wir kurz die psychologische Natur nennen können, der reinkarniert oder sich Leben um Leben im menschlichen Fleische wiederverkörpert.

– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 679